Im Falle des Auffahrens auf ein vorausfahrendes Fahrzeug wird regelmäßig vermutet, dass der Auffahrende entweder einen zu geringen Sicherheitsabstand hatte und/oder unaufmerksam war. Kommen keine weiteren Umstände hinzu, spricht somit der Beweis des ersten Anscheins für ein alleiniges Verschulden des Auffahrenden.
Bevor man jedoch zur Anwendung des Anscheinsbeweises kommt, ist es zunächst erforderlich, dass im konkreten Fall tatsächlich ein Geschehensablauf gegeben ist, der so typisch ist, dass bei seinem Vorliegen regelmäßig auf eine bestimmte Rechtsfolge geschlossen werden kann. Der typische Geschehensablauf als solcher muss zunächst einmal von dem bewiesen werden, der sich darauf beruft (Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl., § 38 Rn 43). Hat das vorausfahrende Fahrzeug unmittelbar vor dem Auffahren die Fahrspur gewechselt, fehlt es an einer typischen Unfallkonstellation, die die Alleinhaftung des Auffahrenden begründet. In dieser Situation fällt auch regelmäßig der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden weg (vgl. z.B. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 4 StVO, Rn 36; Burmann/Heß/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 4 StVO, Rn 24, jew. m.w.N.).
Erfahrungsgemäß ist bei entsprechenden Unfallkonstellationen auf der Autobahn der Spurwechsel des Vorausfahrenden als solcher meist unstreitig, regelmäßig wird jedoch versucht, diesen als so lange abgeschlossen darzustellen, dass er sich nicht mehr auf die Unfallkonstellation ausgewirkt hat. Soweit aber das vorausfahrende Fahrzeug die Fahrspur gewechselt hat und sich in einigermaßen engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit diesem Spurwechsel der Unfall ereignet hat, ist zu berücksichtigen, dass § 7 Abs. 5 StVO beim Fahrspurwechsel die größtmögliche Sorgfaltspflicht fordert. Kommt es zu einem Unfall, steht fest, dass nicht nur eine Gefährdung, sondern sogar eine Schädigung eines anderen Verkehrsteilnehmers eingetreten ist, was dann im Ergebnis zu einem Anscheinsbeweis gegen den Spurwechsler führen kann.
In allen Konstellationen gilt, dass derjenige, gegen den aufgrund eines nachgewiesenen Geschehensablaufs der Beweis des ersten Anscheins spricht, Tatsachen beweisen muss, die die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs ergeben, wobei diese Tatsachen des vollen Beweises bedürfen (Greger, a.a.O., Rn 44 m.w.N.).
Bei der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen ist es somit Aufgabe des Anwalts des Geschädigten, den Sachverhalt umfassend aufzuklären. Sodann ist anhand des Aufzeigens möglichst vieler sachverhaltsbezogener Einzelumstände ein Lebenssachverhalt vorzutragen, der die Typizität eines gleichförmigen Vorgangs entfallen lässt. Insofern gilt, dass das Detail der Feind des Anscheinsbeweises ist (vgl. Lepa, Typische Probleme im Haftpflichtprozess, Rn 170).
Lässt sich im Ergebnis nicht mehr ermitteln, wie sich der Unfall genau abgespielt hat, insbesondere nicht, in welchem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zum Spurwechsel das Auffahren erfolgte, wird regelmäßig eine hälftige Schadensteilung vorzunehmen sein.