StVG § 7 § 17; StVO § 8
Leitsatz
Kommt es in einem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Einbiegen eines Wartepflichtigen mit einem Vorfahrtberechtigten zu einer Kollision, hat der Wartepflichtige den Anscheinsbeweis einer schuldhaften Unfallverursachung gegen sich.
(Leitsatz der Schriftleitung)
AG Hamburg, Urt. v. 12.2.2015 – 32 C 394/14
Sachverhalt
Die Parteien streiten um Schadenersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall. Die Drittwiderbeklagte fuhr mit dem Pkw des Kl. auf einer vorfahrtberechtigten Straße. Im Bereich der Kreuzung stießen das Fahrzeug des Kl. mit dem aus der untergeordneten Straße ausfahrenden Pkw der Bekl. zusammen. Die Bekl. hat ihre Haftung mit der Begründung verneint, die Drittwiderbeklagte habe kurz vor dem Kreuzungsbereich vom linken Fahrstreifen auf den rechten Fahrstreifen gewechselt, auf dem sich das einbiegende Fahrzeug der Bekl. befunden habe, die auf das für sie überraschende Fahrmanöver der Drittwiderbeklagten nicht mehr habe reagieren können.
Das AG ging von einer alleinigen Haftung der Bekl. aus.
2 Aus den Gründen:
" … Der Kl. hat gegen die Bekl. gem. § 823 BGB, §§ 18 i.V.m. 7 Abs. 1, 17 StVG einen Anspruch auf Schadensersatz i.H.v. 996,22 EUR"
Der Verkehrsunfall hat steh bei Betrieb des Pkws des Kl. und des durch die Bekl. gefahrenen Pkws ereignet Die tatsächlichen Voraussetzungen eines Ausschlusses der Haftung aufgrund höherer Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG) oder eines unabwendbaren Ereignisses (§ 17 Abs. 3 StVG) sind nicht erwiesen. Unabwendbar ist ein Ereignis, das durch äußerste mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Abzustellen ist insoweit auf das Verhalten des sog. “Idealfahrers’ (König, in: Hentschel/König/Dauer, 41. Aufl., § 17 StVG Rn 22). Es kann vorliegend nicht ausgeschlossen werden, dass ein solcher “Idealfahrer’ die Kollision verhindert hätte. Damit sind die beiderseitigen Verursachungsbeiträge gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG unter Berücksichtigung der Betriebsgefahren gegeneinander abzuwägen. Dieser Abwägung kann das Gericht ausschließlich unstreitige oder erwiesene Tatsachen zugrunde legen. Auf dieser Grundlage haftet die Bekl. mit einer Haftungsquote von 100 %. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:
Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung ist zulasten der Bekl. als Verursachungsbeitrag ein Verstoß gegen § 8 Abs. 1 StVO zu berücksichtigen.
Danach hat derjenige, der die Vorfahrt zu beachten hat, rechtzeitig durch sein Fahrverhalten zu erkennen zu geben, dass er warten wird. Er darf nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er denjenigen, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er das nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, so darf er sich vorsichtig in die Kreuzung oder Einmündung hinein tasten, bis er die Übersicht hat. Kommt es in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Einbiegen zwischen einem vorfahrtsberechtigten und einem wartepflichtigen Fahrzeug zu einer Kollision, so hat der Wartepflichtige den Anscheinsbeweis einer schadhaften Unfallverursachung gegen sich (vgl. BGH NJW 1976, 1317; LG Hamburg, Urt. v. 1.10.2014 – 331 O 76/14 m.w.N). Dies gilt insb. auch dann, wenn – wie hier – der Wartepflichtige beim Einbiegen nach rechts mit einem sich von links nähernden Vorfahrtberechtigten zusammenstößt (BGH NJW 1982, 2668).
Es ist unstreitig, dass sich die Kollision im engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Einbiegen der Bekl. aus einer untergeordneten Straße (Hallerstraße) in eine bevorrechtigte Straße (Grindelberg) ereignete.
Der Bekl. ist es auch nicht gelungen, einen atypischen Geschehensverlauf nachzuweisen, durch den der Anschein des schuldhaften Vorfahrtverstoßes erschüttert worden wäre. Es sind insb. keine Tatsachen vorgetragen und bewiesen, aus denen sich ergäbe, dass die Bekl. das bevorrechtigte Klägerfahrzeug bei der nach § 8 Abs. 2 S. 2 StVO gebotenen Sorgfalt nicht hätte rechtzeitig wahrnehmen können. Soweit sie behauptet die Drittwiderbeklagte habe vorkollisionär den Fahrstreifen gewechselt, so steht diese Behauptung – selbst wenn sie zur Überzeugung des Gerichts feststünde – dem Anscheinsbeweis gegen die Bekl. schon aus Rechtsgründen nicht entgegen (vgl. LG Hamburg, Urt. v. 1.10.2014 – 331 O 76/14). Das beklagtenseits als Beweis für den bestrittenen Fahrstreifenwechsel der Drittwiderbeklagten angebotene Sachverständigengutachten brauchte daher durch das Gericht nicht eingeholt zu werden. Ein zeitlich unmittelbar vor der Kollision erfolgter Fahrstreifenwechsel des Vorfahrtberechtigten vermag nicht die Typizität einer Vorfahrtsverletzung aufzuheben (vgl. LG Essen, Urt. v. 28.2.2013 – 10 S 358/12; LG Saarbrücken, Urt. v. 10.6.2011 – 13 S 40/11). Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich nach ständiger höchstgerichtlicher Rspr. auf die Fahrbahn in ihrer gesamten Breite (vgl. BGH VersR 1997, 38; OLG Hamburg VersR 1976, 893 m.w.N.). Die Bekl. konnte zudem als auf die Vorfahrtstraße Einbiegende nicht grds. darauf vertrauen, dass die auf der vorfahrtsberechtigten Straße fahrende Drittwiderbeklagte den gewählten Fahrstre...