Leitsatz
Verfahrenabsprachen sind auch im Strafprozess zulässig. Das Gericht darf im Rahmen einer solchen Vereinbarung aber an der Erörterung eines Rechtsmittelverzichts nicht mit- und auf einen solchen Verzicht auch nicht hinwirken. Nach jedem Urteil muss das Gericht den Rechtsmittelberechtigten stets darüber belehren, dass er trotz der Absprache ein Rechtsmittel einlegen darf. Der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist unwirksam, wenn der ihn erklärende Rechtsmittelberechtigte nicht so belehrt worden ist.
Sachverhalt
Aufgrund einer Vorlage des 3. Strafsenats musste sich der Große Strafsenat des BGH grundlegend mit der Zulässigkeit und den Grenzen von Absprachen im Strafprozess auseinandersetzen. Das Gericht hält solche vor allem in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen verbreitete Verfahrensvereinfachungen prinzipiell für zulässig, zeigt aber eindeutige Grenzen auf.
Entscheidung
Die StPO kennt die "Verständigung im Strafverfahren" als Erledigungsart und verbindliche Zusagen über das Verfahrensergebnis nicht. Gleichwohl hat sich eine Praxis dahin entwickelt, dass die Verfahrensbeteiligten das Urteilsergebnis einschließlich der Strafobergrenze absprechen. Derartige Urteilsabsprachen sind grundsätzlich zulässig und angesichts der hohen Belastung der Strafjustiz aus verfahrensökonomischen Gründen unerlässlich, um die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege aufrechtzuerhalten. Außerdem können Gesichtspunkte des Zeugen- und Opferschutzes für eine Verfahrensweise sprechen, die eine umfassende Beweisaufnahme unnötig macht.
Urteilsabsprachen müssen aber die durch das GG und die StPO gesetzten Grenzen einhalten. Dazu gehören insbesondere der Grundsatz des fairen Verfahrens, das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung und die Schuldangemessenheit der Strafe. Das Gericht muss daher den Anklagevorwurf und insbesondere das Geständnis des Angeklagten sorgfältig überprüfen. Absprachen über den Schuldspruch sind grundsätzlich unzulässig. Der Angeklagte darf auch nicht dadurch zu einer Absprache gedrängt werden, dass ihm für ein "streitiges" Verfahren eine unangemessen hohe Strafe angekündigt wird.
Das Gericht darf im Rahmen einer Urteilsabsprache an der Erörterung eines Rechtsmittelverzichts nicht mitwirken und auf einen solchen Verzicht auch nicht hinwirken. Nach jedem Urteil, dem eine Absprache zugrunde liegt, ist der Angeklagte neben der gesetzlich vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung darüber zu belehren, dass er unabhängig von der Absprache in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen. Das gilt auch dann, wenn die Absprache einen Rechtsmittelverzicht zum Gegenstand hatte. Der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist andernfalls unwirksam.
Praxishinweis
Der Große Senat für Strafsachen hebt hervor, dass er mit seiner Entscheidung an die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung stößt. Er appelliert deshalb an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit und die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Es ist primär Aufgabe des Gesetzgebers, die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens und damit auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache unterworfen sein soll, festzulegen.
Link zur Entscheidung
BGH, Beschluss vom 03.03.2005, GSSt 1/04BGH-Beschluss vom 3.3.2005, GSSt 1/04