Leitsatz
GmbH-Geschäftsführer und AG-Vorstände haften gemäß § 64 Abs. 2 GmbHG bzw. § 92 Abs. 3 AktG grundsätzlich für sämtliche Zahlungen, die nach Eintritt der materiellen Voraussetzungen einer Insolvenz (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit) geleistet werden. Eine Ausnahme gilt nur für Zahlungen, "die mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes vereinbar sind".
Nach der bisherigen Rechtsprechung des 2. Zivilsenats des BGH galt diese Ausnahme nicht für Zahlungen der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung oder Lohnsteuerzahlungen, denn die Sozialkassen und der Fiskus sollten gegenüber anderen Gläubigern nicht bevorzugt werden. Der 5. Strafsenat des BGH ging hingegen davon aus, dass sich Geschäftsführer und Vorstände strafbar machen, wenn sie Sozialabgaben nicht abführen (§ 266a StGB) und es drohte ihnen die Haftung für nicht gezahlte Lohnsteuer gemäß §§ 34, 69 AO. Denn diese Zahlungen, so der 5. Strafsenat, seien aufgrund ihrer Strafbewehrtheit privilegiert und damit vorrangig zu leisten.
Der 2. Zivilsenat hat nunmehr ein Einsehen mit den Geschäftsführern und Vorständen gezeigt, die sich bislang kaum richtig verhalten konnten: Leisteten sie die Zahlungen nicht, machten sie sich strafbar; zahlten sie, drohte ihnen die Inanspruchnahme auf Rückzahlung durch den Insolvenzverwalter. Ein Widerspruch, aus dem es nur ein Entrinnen gab - die rechtzeitige Stellung des Insolvenzantrags, die jedoch Kenntnis vom Vorliegen des Insolvenztatbestands (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit) voraussetzt. Nach dem Urteil vom 14.5.2007 des 2. Zivilsenats ist nunmehr die Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung sowie von Lohnsteuer in den Kreis der privilegierten Zahlungen des § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG bzw. § 92 Abs. 3 Satz 2 AktG aufgenommen - sie sind mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns vereinbar.
Darüber hinaus hat der BGH klargestellt, dass ein Geschäftsführer / Vorstand nicht schuldhaft handelt und damit nicht haftet, wenn er seine Pflicht zur Überprüfung des Vorliegens der Insolvenzvoraussetzungen durch Einschaltung eines sachverständigen Dritten erfüllt und sich auf dessen Urteil, dass keine Überschuldung/Zahlungsunfähigkeit vorliege, verlassend weiterhin Zahlungen leistet.
Hinweis
Dem scharfen Schwert des § 64 Abs. 2 GmbHG bzw. § 92 Abs. 3 AktG ist durch das Urteil des BGH vom 14.5.2007 kaum an Schärfe genommen. Es wurden nur unhaltbare Widersprüche in der Rechtsprechung verschiedener Senate beseitigt. Steht einmal fest, dass und ab wann die Voraussetzungen der materiellen Insolvenz (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit) vorlagen, gibt es (weiterhin) kaum ein Entrinnen. Und die Feststellung der Überschuldung/Zahlungsunfähigkeit hat der BGH zunehmend erleichtert; zuletzt durch Urteil vom 12.10.2006, wonach die Zahlungsunfähigkeit auch ohne Liquiditätsbilanz festgestellt werden kann.
Zentral ist und bleibt daher für Geschäftsführer und Vorstände die Erfüllung ihrer Pflicht zur Überprüfung, ob Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit vorliegen. Dieser Pflicht können sie auch durch Einschaltung sachverständiger Dritter nachkommen und sich auf deren Urteil verlassen. Doch ist auch hier Vorsicht geboten, denn eine einfache Anfrage lässt der BGH nicht ausreichen. Erforderlich ist vielmehr, dass sich Geschäftsführer / Vorstand unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärenden Fragestellungen fachlich qualifizierten Berufsträger (insbesondere einem Wirtschaftsprüfer) beraten lässt.
Kommt es zu Situationen, in denen unklar ist, ob Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit vorliegen, kann der Geschäftsführer / Vorstand nach dem Urteil vom 14.5.2007 nunmehr zur Vermeidung einer persönlichen Strafbarkeit und Haftung die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung und Lohnsteuer bezahlen. Doch auch hier gilt es genau aufzupassen, denn da die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung nicht von der Strafandrohung des § 266a StGB erfasst sind, gilt die Privilegierung für diesen Teil der Sozialabgaben nicht. Auch scheint nicht ausgeschlossen, dass die Geschäftsführer / Vorstände den durch die Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung und Lohnsteuer benachteiligten "normalen" Gläubigern für den hierdurch entstandenen Quotenschaden haften, wenn sie zu spät Insolvenz anmelden.
Link zur Entscheidung
BGH, Urteil vom 14.05.2007, II ZR 48/06