Leitsatz
In einer Anwaltskanzlei müssen organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass eine mündliche Einzelanweisung über die Eintragung einer nur mündlich mitgeteilten Berufungsfrist in Vergessenheit gerät und die Fristeintragung deshalb unterbleibt. Werden die insoweit getroffenen organisatorischen Vorkehrungen nicht mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsfrist vorgetragen und glaubhaft gemacht, ist ein Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) zu vermuten und der Antrag zurückzuweisen.
Sachverhalt
Die Frist für die Berufung gegen ein AG-Urteil lief am 30.5.2003 ab. Die Berufung ging erst am 17.6.2003 zusammen mit einem Wiedereinsetzungsantrag beim LG ein. Letzterer wurde wie folgt begründet: Der Prozessbevollmächtigte sei am 13.5.2003 mit dem Berufungsverfahren beauftragt worden. Der die Sache bearbeitende Assessor T habe die Unterlagen zur Notierung der Berufungsfrist auf den 30.5.2003 und der Berufungsbegründungsfrist auf den 30.6.2003 der Fachangestellten C gegeben. Bei Durchsicht der Akte zur Vorbereitung der Berufungsbegründung am 13.6.2003 habe T festgestellt, dass die Berufung nicht eingelegt und Berufungs- sowie Berufungsbegründungsfrist im Terminbuch nicht eingetragen worden seien.
Entscheidung
Der Wiedereinsetzungsantrag war erfolglos. Die ordnungsgemäße und fristgerechte Einlegung des Rechtsmittels setzt voraus, dass die Berufungsschrift rechtzeitig verfasst wird und innerhalb der Frist bei Gericht eingeht. Zu diesem Zweck muss der Anwalt eine zuverlässige Fristenkontrolle organisieren und insbesondere einen Fristenkalender führen. Eine wirksame Fristenkontrolle setzt voraus, dass Fristen zur Einlegung und Begründung von Rechtsbehelfen deutlich als solche gekennzeichnet werden. Sie müssen so notiert werden, dass sie sich von gewöhnlichen Wiedervorlagefristen unterscheiden. Ferner obliegt dem Prozessbevollmächtigten eine wirksame Ausgangskontrolle, die gewährleistet, dass fristwahrende Schriftsätze rechtzeitig hinausgehen. Er hat sicherzustellen, dass eine Frist im Fristenkalender erst dann als erledigt gekennzeichnet wird, wenn der Schriftsatz abgesandt oder zumindest postfertig ist. Diese individuelle Organisation der Fristenkontrolle muss bei Wiedereinsetzungsanträgen sowohl ausdrücklich vorgetragen als auch – z.B. durch entsprechende eidesstattliche Versicherungen der Kanzleimitarbeiter – glaubhaft gemacht werden.
Ein Rechtsanwalt braucht zwar grundsätzlich nicht die Erledigung jeder konkreten Einzelanweisung zu überwachen. Im Allgemeinen kann er darauf vertrauen, dass eine sonst zuverlässige Angestellte auch mündliche Weisungen richtig befolgt. In der Kanzlei müssen jedoch ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die mündliche Einzelanweisung über die Eintragung einer der Angestellten mitgeteilten Berufungsfrist nicht umgesetzt wird. Wird die Notierung einer Berufungsfrist nur mündlich vermittelt, bedeutet das Fehlen jeder Sicherung einen entscheidenden Organisationsmangel.
Link zur Entscheidung
BGH-Beschluss vom 4.11.2003, VI ZB 50/03