Leitsatz
1. Das Wort "charitable" in der englischen Sprachfassung von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und h 6. EG-RL stellt einen eigenständigen Begriff des Gemeinschaftsrechts dar, der unter Berücksichtigung aller Sprachfassungen der 6. EG-RL auszulegen ist.
2. Der Begriff "von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen" in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und h der 6. EG-RL schließt private Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht nicht aus.
3. Das nationale Gericht hat unter Berücksichtigung insbesondere der Grundsätze der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität sowie des Inhalts der fraglichen Dienstleistungen und der Bedingungen ihrer Erbringung zu prüfen, ob die Anerkennung einer privaten Einrichtung mit Gewinnerzielungsabsicht – die deshalb nicht den Status einer "charity" nach innerstaatlichem Recht hat – als Einrichtung mit sozialem Charakter für die Zwecke der Steuerbefreiungen des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und h der 6. EG-RL das den Mitgliedstaaten in dies en Bestimmungen für eine solche Anerkennung eingeräumte Ermessen überschreitet.
Normenkette
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und H der 6. EG-RL , Art. 13 Teil A Abs. 2 der 6. EG-RL (vgl. ? 4 Nr. 15, ? 4 Nr. 16, ? 4 Nr. 18, ? 4 Nr. 23, ? 4 Nr. 24, ? 4 Nr. 25 UStG)
Sachverhalt
Kingscrest und Montecello gründeten – mit Gewinnerzielungsabsicht – eine Personengesellschaft zum Betrieb von Heimen für betreutes Wohnen (Kinder- und Pflegeheime); unstreitig im Vorlagebeschluss war, dass es sich dabei um "Leistungen der Sozialfürsorge i.S.d. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-RL" handelte und dass die betriebenen Heime eine "staatlich kontrollierte private Sozialeinrichtung" i.S.d. englischen Mehrwertsteuerregelungen war. Die beiden Klägerinnen wandten sich gegen die Steuerbefreiung mit der Begründung, die nationale Regelung sei weiter als die entsprechende Vorgabe der 6. EG-RL, denn diese betreffe nur Einrichtungen ohne Gewinnstreben ("charitable") und sei deshalb richtlinienwidrig.
Entscheidung
Die in den Praxis-Hinweisen erläuterten Grundsätze sind die Maßstäbe, an denen sich die Auslegung der nationalen Befreiungsvorschriften für Leistungen, die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit und eng mit der Kinder und Jugendbetreuung verbunden sind, befreien, orientieren und noch verprobt werden muss.
Hinweis
Nach Art. 13 Teil A Abs. 1 der 6. EG-RL sind steuerbefreit:
Buchst. g: "die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte ("recognized as charitable") Einrichtungen", und
Buchst. h: "die eng mit der Kinder- und Jugendbetreuung verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte ("recognized as charitable") Einrichtungen".
Nach Abs. 2 können die Mitgliedstaaten die Gewährung u.a. dieser Befreiungen für Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, von Fall zu Fall von der Erfüllung einer oder mehrerer Bedingungen abhängig machen: Z.B. dass die betreffenden Einrichtungen keine systematische Gewinnerzielung anstreben dürfen.
Fraglich war, ob wegen der Formulierung "recognized as charitable" (englische Sprachfassung; die deutsche Fassung lautet: "Einrichtungen mit sozialem Charakter") Einrichtungen mit Gewinnstreben von der Befreiung auszuschließen sind.
Die Grundsätze lassen sich nicht ganz kurz zusammenfassen:
(1) Die Steuerbefreiungen der 6. EG-RL sind eigenständige Begriffe des Gemeinschaftsrechts und erfordern daher eine gemeinschaftsrechtliche Definition, insbesondere auch die Begriffe, die die Eigenschaft oder die Identität des Wirtschaftsteilnehmers betreffen, der die von der Befreiung erfassten Leistungen erbringt.
(2) Die Mitgliedstaaten dürfen zwar Bedingungen festlegen, "um die korrekte und einfache Anwendung dieser Befreiungen zu gewährleisten und Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaige Missbräuche zu verhüten" – so der Einleitungssatz des Art. 13; die Bedingungen des Einleitungssatzes des Art. 13 dürfen sich nicht auf den Inhalt der vorgesehenen Steuerbefreiungen erstrecken.
(3) Ob ein bestimmter Umsatz der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder zu befreien ist, kann nicht davon abhängen, wie er nach nationalem Recht qualifiziert wird.
(4) Steuerbefreiungsvorschriften sind eng auszulegen; die Auslegung muss die Ziele der Befreiung und den Grundsatz der Neutralität berücksichtigen.
(5) Die Steuerbefreiungen in Buchst. g und h sollen für bestimmte im sozialen Sektor erbrachte Leistungen, die dem Gemeinwohl dienen, eine günstigere Mehrwertsteuerbehandlung gewähren, um die Kosten dieser Leistungen zu senken und dadurch diese Leistungen dem Ei...