Einbiegen eines Radfahrers in eine vorfahrtberechtigte Straße

Fahrradfahrer, die im Stadtverkehr vom Radweg auf eine Straße einbiegen, können sich nicht darauf verlassen, dass ortskundige  vorfahrtsberechtigte Autofahrer bei Sichtbehinderungen nur Schrittgeschwindigkeit fahren, um dadurch mögliche Unfälle zu vermeiden.

Ein fünfzehnjähriges Mädchen befuhr innerorts einen Radweg. Als sie einen Fußweg querte und dann auf die bevorrechtigte Straße einbog, kam es zum Zusammenstoß mit einem Auto. Von dem beklagten Autofahrer forderte die Radfahrerin Schadensersatz in Höhe 200 EUR sowie Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 EUR. Sie begründete ihre Forderung damit, dass der Autofahrer viel zu schnell gefahren sei, insbesondere angesichts des Umstandes, dass seine Sicht durch Hecken, Sträucher sowie parkende Autos stark eingeschränkt gewesen sei.

Autofahrer fuhr maximal 32 km/h

Das OLG München hat entschieden, dass die klagende Radfahrerin keinen Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadensersatz hat. Nach den Aussagen des hinzugezogenen Sachverständigen war der Autofahrer nicht schneller als 32 Stundenkilometer gefahren. Ab einer Geschwindigkeit von 17 Stundenkilometern hätte der Autofahrer den Unfall nicht mehr vermeiden können, so der Experte.

Radlerin hat "Vorfahrt-gewähren"-Schild missachtet

Der Autofahrer war am Unfallort vorfahrtsberechtigt, für Fahrradfahrer, die vom Radweg auf die Straße einbiegen wollen, zeigte ein „Vorfahrt-gewähren"-Verkehrszeichen klar die Vorfahrtsregelung an.

Auch das OLG sah keinen Schmerzensgeldanspruch des Mädchens:  Das Erstgericht sei rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass der Autofahrer nicht gegen § 3 StVO verstoßen habe. Der Autofahrer habe nicht damit rechnen müssen, dass Fahrradfahrer, die sich von rechts vom Fahrradweg annäherten, in die Straße einfahren würden, ohne im Einmündungsbereich anzuhalten, um dem bevorrechtigten Verkehr den Vortritt zu lassen.

Sichtbeschränkungen kein Grund nur Schrittgeschwindigkeit zu fahren

Das Gericht folgte auch nicht der Auffassung der Klägerin, dass ein ortskundiger Autofahrer allein wegen der Einmündung eines Radwegs und der vorhandenen Sichtbeeinträchtigungen jederzeit damit rechnen müsse, dass ein Fahrradfahrer in die Straße einfahren könne, ohne dabei anzuhalten.

Klägerin hatte  auch nicht vorgetragen, dass es sich bei der Unfallstelle um einen bekannten Unfallschwerpunkt handelte, bei dem regelmäßig Verkehrsverstöße zu erwarten gewesen wären, wie etwa an Haltestellen, Schulen oder Kindergärten.

Im innerstädtischen Bereich gebe es an vielen Stellen Sichtbeschränkungen, die eine freie Sicht auf einmündende Straßen und Einfahrten verhindern. Wenn dies dazu führen würde, dass ein Fahrradfahrer, der ebenfalls nur eine eingeschränkte Sicht habe und nicht vorfahrtsberechtigt sei, ungebremst, unachtsam und mit nicht geringer Geschwindigkeit eine Straße queren dürfte, würde dies den innerstädtischen Verkehrsfluss faktisch zu Erliegen bringen. Zudem würden die Regeln der StVO, hier des § 10 StVO, ins Gegenteil verkehrt. Denn dann müssten Verkehrsteilnehmer an jeder dieser Stellen auf Schrittgeschwindigkeit abbremsen.

Keine Gefährdungshaftung

Die Gefährdungshaftung des Fahrzeugs des Beklagten trete aufgrund des erheblichen und schuldhaften Verstoßes der Klägerin gegen § 10 StVO vollständig zurück.  Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen stehe fest, dass die Radlerin 15 bis 20 km/h gefahren sei, als sie auf die Straße einbog. Sie könne daher nicht, wie von ihr behauptet, auf dem Gehweg angehalten haben, bevor sie auf die Straße einbog.

Alter der 15-jährigen Radlerin war ohne Belang

Dass es sich bei der Radlerin um eine 15-jährige Jugendliche hadelte, spielt keine Rolle. Aufgrund ihres Alters von 15 Jahren musste ihr zum Unfallzeitpunkt die Bedeutung des für sie deutlich sichtbaren "Vorfahrt-Gewähren"-Schildes bekannt sein und der Weg war ihr bekannt.

Auch auf eine bei einer 15-Jährigen noch vorhandenen Impulsivität sei der Unfall nicht auf einen altersmäßigen Lern- und Eingewöhnungsprozess zurückzuführen. Vielmehr habe eine altersunabhängige mangelnde Konzentrationsfähigkeit zu dem Unfall geführt.

(OLG München, Urteil v. 25.11.2020, 10 U 2847/20).

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Bei Unfällen mit deliktsunfähigen Kindern (bis 10 Jahre, § 828 Abs. 2 BGB) trifft den Kfz-Halter grundsätzlich die volle Haftung, weil ein Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 7 Abs. 2 StVG praktisch nicht denkbar ist und die Berufung auf ein unabwendbares Ereignis nach § 17 Abs. 3 und 4 StVG gegenüber Fußgängern generell nicht möglich ist. Eine Mithaftung des deliktsunfähigen Kindes kann allenfalls über § 829 BGB (Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen) in Betracht zu ziehen sein.Bei Unfällen mit deliktsfähigen Kindern und Jugendlichen ist zu beachten, dass den Kfz-Fahrer beim Auftauchen von Kindern in Fahrbahnnähe die erhöhte Sorgfaltspflicht des § 3 Abs. 2a StVO trifft (vgl. hierzu BGH, Urteil v. 19.04.1994,  VI ZR 219/93, NJW 1994, 2829). Dies hat zur Folge, dass bei Unfällen mit deliktsfähigen Kindern und Jugendlichen, denen ein Mitverschulden nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB anzulasten ist, eine Schadensverteilung mit einer im Vergleich zu der Haftungsverteilung bei vergleichbaren Unfällen mit Erwachsenen etwas höheren Haftungsquote zu Lasten des Kfz-Halters in Betracht kommt (Grüneberg NJW 2013, 2705).Gleichwohl ist auch eine alleinige Haftung des deliktsfähigen Kindes möglich,  wenn ihm objektiv und subjektiv ein erhebliches Verschulden zur Last fällt, welches die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs als völlig untergeordnet erscheinen lässt (BGH NZV 2007, 207). Aus: Deutsches Anwalt Office Premium


Schlagworte zum Thema:  Verkehrsunfall, StVO