Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums. besondere Ausgestaltung des Eilverfahrens. Güter- und Folgenabwägung. Sozialhilfe. Zusammenleben einer Altersrente beziehenden Mutter mit ihrem volljährigen Sohn. Einstands- oder Haushaltsgemeinschaft. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Einkommenseinsatz. Zuordnung des Kindergeldes
Leitsatz (amtlich)
1. In Fällen, in denen es um Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums geht, ist eine Ablehnung des einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund fehlender Erfolgsaussichten der Hauptsache nur dann zulässig, wenn das Gericht die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend geprüft hat (vgl BVerfG vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 = Breith 2005, 803 und vom 6.2.2007 - 1 BvR 3101/06).
2. Wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für einen Hilfeempfänger schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist grundsätzlich eine besondere Ausgestaltung des Eilverfahrens erforderlich.
3. Wegen ihrer Gewährleistungsfunktion muss Sozialhilfe so beschaffen sein, dass der sozialhilferechtliche Bedarf vollständig befriedigt wird. Die Eigenart der Sozialhilfe als Nothilfe setzt dabei eine gegenwärtige Notlage voraus, die, wenn sie vorliegt, schnell beseitigt werden muss.
4. Im Rahmen einer Güter- und Folgenabwägung sieht sich der Senat trotz unzureichender Tatsachenklärung und nicht unerheblicher Zweifel am Anordnungsanspruch gehalten grundsätzlich eine positive Anordnung zu treffen.
Orientierungssatz
1. Ein volljähriger Hilfebedürftiger bildet mit seiner Altersrente beziehenden Mutter keine Einstandsgemeinschaft iS des § 19 Abs 1 S 2 Halbs 2 SGB 12, aber unter Umständen eine Haushaltsgemeinschaft nach § 36 SGB 12. Schon bei der Vorgängervorschrift von § 36 SGB 12, § 16 BSHG, bestand Einigkeit in Literatur und Rechtsprechung, dass den dort genannten Verwandten und Verschwägerten ein Einkommen belassen werden muss, welches deutlich über dem Bedarf der Hilfe zum Lebensunterhalt liegt (vgl BVerwG vom 17.1.1980 - 5 C 48/78 = BVerwGE 59, 294 = FEVS 28, 309). Dem ist auch bei der Anwendung von § 36 SGB 12 zu folgen. Zutreffend hat das BVerwG für die Bemessung des Eigenbedarfs auf die bürgerlich-rechtliche Unterhaltspflicht verwiesen. Insoweit ist bei Verwandten in einer Haushaltsgemeinschaft, die grundsätzlich unterhaltspflichtig sind - vor allem Eltern und volljährige Kinder - ein Selbstbehaltsbetrag nach dem Unterhaltsrecht zugrunde zu legen, also bei Eltern gegenüber ihren Kindern hier 1000 Euro.
2. Zu fehlenden Feststellungen, ob die Anwendung von § 36 SGB 12 ausgeschlossen ist, wenn der Hilfebedürftige selbst Leistungsberechtigter nach § 41 SGB 12 ist, ob der Hilfebedürftige auf Unterhaltsansprüche gegenüber seiner Mutter verwiesen werden kann und ob er über Einkommen und Vermögen verfügt.
3. Bei volljährigen Kindern, bei denen die Zurechnungsvoraussetzungen nicht vorliegen, die nicht in einer Familienhaushaltsgemeinschaft mit kindergeldberechtigten Personen leben, ist das Kindergeld Einkommen des bezugsberechtigten Elternteils (vgl BVerwG vom 17.12.2003 - 5 C 25.02 = NJW 2004, 2541 und BSG vom 8.2.2007 - B 9b SO 5/06 R = BSGE 98, 121 = SozR 4-3500 § 41 Nr 1) und darf einem Kind nur angerechnet werden, soweit es an dieses durch einen gesonderten, zweckorientierten Zuwendungsakt tatsächlich weitergegeben wird (vgl OVG Koblenz vom 23.2.2002 - 12 A 10375/02 = FEVS 54, 45 und LSG Stuttgart vom 23.11.2006 - L 7 SO 2073/06).
Tenor
I. Auf die Beschwerde der Antragsteller wird die Antragsgegnerin unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Augsburg vom 11. Februar 2010 verpflichtet, dem Antragsteller zu 1 im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Leistungen der Grundsicherung im Umfang von 175 € monatlich von März bis einschließlich Juni 2010 zu erbringen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind den Antragstellern zur Hälfte von der Antragsgegnerin zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller zu 1 (1963 geboren) und seine 1942 geborenen Mutter (Antragstellerin zu 2) verlangen im einstweiligen Rechtsschutz vom Träger der Sozialhilfe (Antragsgegner) Hilfe zum Lebensunterhalt. Am 28. Januar 2010 haben sie beim Sozialgericht Augsburg (SG) eine einstweilige Anordnung beantragt und vorgebracht, seit Dezember 2009 keine Rente mehr bekommen zu haben und die Miete nicht bezahlen zu können.
Zuletzt bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller zu 1 mit Bescheid vom 12.08.2009 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab 01.09.2009 bis 31.12.2009 in Höhe von 528,24 €. Dabei legte sie einen Regelbedarf gemäß 42 SGB XII zu Grunde sowie die Hälfte der Kosten der Unterkunft für die gemeinsam mit der Antragstellerin zu 2 bewohnte Wohnung. Die Mutter des Antragstellers zu 1 bezieht Hinterbliebenen- und Altersrente (von der DRV Schwaben mit Bescheid vo...