Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Asylbewerberleistungsberechtigte. Unionsbürger. Aufenthaltserlaubnis. rechtmäßiger Aufenthalt. Inhaftierung. Arbeitnehmereigenschaft. Gleichbehandlungsgebot. Nachrang der Gleichbehandlungspflicht aus EuFürsAbk
Orientierungssatz
1. Für einen rechtmäßigen fünfjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland iS des § 4a Abs 1 FreizügG/EU 2004 genügt nicht, dass dieser irgendwann erfolgt ist. Ein Daueraufenthalt soll vielmehr unmittelbar an einen Vortatbestand, der den Ausländer "daueraufenthaltswürdig" macht, knüpfen.
2. Davon ist nicht auszugehen, wenn der Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland lediglich ein geduldeter war und keine Aufenthaltsgenehmigung nach dem AuslG 1990 erteilt worden ist. Daran ändert auch nicht, dass keine Ausreiseaufforderung erfolgt ist. Insoweit fehlt zwar eine Ausreisepflicht iS des § 42 Abs 2 S 2 AuslG 1990, der Aufenthalt wird dadurch jedoch nicht "rechtmäßig".
3. Unabhängig von dem ausdrücklich geregelten Verbleiberecht verliert der Ausländer im Fall der Arbeitslosigkeit nicht notwendigerweise den Status als "Arbeitnehmer" iS des Art 39 EG - und damit auch iS des § 1 Abs 1 Nr 1 AufenthEWGG. Dieser Status bleibt jedenfalls bestehen, solange sich der Arbeitslose als Arbeitsuchender weiterhin im Staat der bisherigen Beschäftigung aufhält. Die Arbeitnehmereigenschaft erlischt spätestens, wenn feststeht, dass eine Beschäftigung als Arbeitnehmer dauerhaft unmöglich ist (hier: Unmöglichkeit durch Inhaftierung mangels Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt).
4. Gem Art 39 Abs 3 Buchst a und b EG kommt der Schutz der europarechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit vorübergehend auch Arbeitsuchenden zugute, auch wenn sie vorher noch überhaupt nicht in einem Beschäftigungsverhältnis in dem anderen Mitgliedsstaat gestanden haben. Dieser Schutz bewegt sich jedoch allenfalls innerhalb einer Spanne zwischen 3 und 6 Monaten.
5. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 SGB 2 für Leistungsberechtigte nach § 1 Abs 1 Nr 3 AsylbLG (hier: Unionsbürger mit einer Aufenthaltserlaubnis gem § 25 Abs 4 AufenthG 2004) steht nicht mit internationalem Sozialrecht in Einklang. Die Vorenthaltung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bedeutet eine Verletzung der europarechtlichen Gleichbehandlungspflicht iS des Art 3 Abs 1 EWGV 1408/71. Diese Verletzung ist auch keiner Rechtfertigung zugänglich. Das Gebot der Gleichbehandlung gilt vielmehr strikt.
6. Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB 2 fallen gem Art 4 Abs 2a iVm Anhang IIa Buchst E EWGV 1408/71 unter den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung EWGV 1408/71. Sie werden nicht von Art 4 Abs 4 der Verordnung erfasst. Zwar modifiziert Art 10a EWGV 1408/71 deren Einschlägigkeit für sogenannte beitragsunabhängige Sonderleistungen, zu denen auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB 2 gehören, ganz erheblich. Das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 EWGV 1408/71 bleibt jedoch davon unberührt.
7. Zur erweiternden Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs in Art 1 Buchst a EWGV 1408/71.
8. Die völkerrechtliche Norm des Art 1 EuFürsAbk, die ebenfalls eine Gleichbehandlungspflicht enthält, wird durch EG-Recht suspendiert. Der Vorrang des Art 3 EWGV 1408/71 ergibt sich aus der Kollisionsregel des Art 6 EWGV 1408/71.
Tenor
I. Auf die Beschwerde wird Ziffer II des Beschlusses des Sozialgerichts Augsburg vom 16. November 2007 dahin abgeändert, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nur darlehensweise und vorläufig vom 01.01. bis zum 30.04.2008 in voller Höhe zu erbringen sind. Die Darlehensmodalitäten richten sich nach § 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II; die Darlehenstilgung darf nicht vor Eintritt der Rechtskraft im Hauptsacheverfahren beginnen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Die Beschwerdeführerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdegegnerin im Beschwerdeverfahren.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten wegen der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Bg.), Tochter einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters, ist niederländische Staatsangehörige, lebt jedoch seit ihrer Geburt in Deutschland. Vermutlich ab 1982 erhielt sie aufgrund ihrer damaligen Erwerbstätigkeit eine Aufenthaltserlaubnis-EG, die zuletzt bis 24.10.1996 verlängert wurde. Aus den Akten der Bf. geht hervor, dass sich die Bg. vom 01.01.1996 bis 31.12.1998 in Strafhaft befand. Mit Bescheid vom 12.02.2004 lehnte die Landeshauptstadt S. als zuständige Ausländerbehörde eine neuerliche Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis-EG ab; eine Ausreiseaufforderung und eine Abschiebungsandrohung wurden jedoch nicht verfügt.
Wegen dieser Ablehnung kam es zu einem Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht S. . Dieses entschied mit Urteil vom 23.12.2005 - 2 K 1956/04 -, die Ausländerbehörde habe nach der seinerzeitigen Rechtslage (damit ist das bis 31.12.2004 geltende...