Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. restriktive Auslegung. Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Verschulden. Verletzung von Mitwirkungspflichten. Anhörung und Setzung einer angemessenen Frist zur Nachholung der Mitwirkung. Verhinderung der Ausreise. Antrag auf einen Pass. Beschaffung der Geburtsurkunde. Mitwirkungshandlung. Konkretisierung der Handlungspflicht. Verantwortungsbereich. Existenzminimum. Verhältnismäßigkeit. Aufhebung. Aufschiebende Wirkung
Leitsatz (amtlich)
1. Vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz gegen eine Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG ist über einen Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 86b Abs 2 S 2 SGG zu suchen.
2. Das Grundrecht auf die Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebieten eine restriktive Auslegung des § 1a AsylbLG.
3. Soweit ein Vertretenmüssen iS des § 1a Abs 3 AsylbLG darauf gründet, dass im Zusammenhang mit der Aufenthaltsbeendigung bestehende Mitwirkungspflichten nach dem Aufenthaltsgesetz (juris: AufenthG 2004) oder Asylgesetz (juris: AsylVfG 1992) verletzt werden, sind zugunsten des Leistungsberechtigten Einschränkungen zu berücksichtigen.
So ist der Leistungsberechtigte ua vor der Entscheidung über die Einschränkung anzuhören und ihm ist eine angemessene Frist zur Beendigung des leistungsmissbräuchlichen Verhaltens zu setzen, damit er die beabsichtigte Einschränkung der Leistungen durch eigenes Zutun noch abwenden kann.
Normenkette
AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 S. 2, Abs. 3, § 11 Abs. 4 Nr. 2; SGB X § 48; SGG § 86a Abs. 2 Nr. 4, § 86b Abs. 2 S. 2
Tenor
I. Die Beschwerde gegen Ziffer 1 und 2 des Beschlusses des Sozialgerichts Landshut vom 15. Juni 2016, S 11 AY 54/16 ER, wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin aus dem Beschwerdeverfahren zu tragen.
III. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und RA S., A-Stadt, beigeordnet.
Gründe
I.
Die Antragstellerin (es verbleibt bei der Bezeichnung der Beteiligten im erstinstanzlichen Verfahren) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Weitergewährung von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ohne Anspruchseinschränkung.
Die 1977 geborene Antragstellerin ist laut eigenen Angaben kongolesische Staatsange-hörige und reiste am 27.04.2010 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 15.06.2010 die Anerkennung als Asylberechtigte; seither erhält sie Leistungen nach dem AsylbLG. Der Antrag auf Gewährung von Asyl wurde mit Bescheid vom 15.03.2012 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt. Mit gleichem Bescheid wurde die Antragstellerin zur Ausreise aufgefordert. Das Asylverfahren ist seit dem 14.07.2012 rechtskräftig negativ abgeschlossen. Die Antragstellerin ist vollziehbar ausreisepflichtig und wird wegen der fehlenden Reisepapiere geduldet. Sie gab an, bei der Einreise weder über einen Pass, noch sonstige Identitätsdokumente gehabt zu haben.
Die Antragsgegnerin hörte die Antragstellerin bereits am 05.12.2012 zu einer beabsichtigten Leistungskürzung nach § 1 a AsylbLG an, weil diese es unterlassen habe, gültige Heimreisedokumente zu beschaffen und vorzulegen.
Am 24.04.2013 sprach die Antragstellerin auf Initiative der Antragsgegnerin hin bei der Auslandsvertretung der Republik Kongo vor. Nach ihren eigenen Angaben gegenüber der Ausländerbehörde anlässlich einer Vorsprache zur Verlängerung der Duldung erklärte die Antragstellerin am 09.09.2013, keinen Reisepass bei der kongolesischen Botschaft beantragt zu haben, weil sie keine Geburtsurkunde habe vorlegen können. Eine Geburtsurkunde könne sie nur bei der örtlichen Behörde in Kinshasa beantragen, sie verfüge aber über keinerlei Kontakte im Kongo.
Bei einer erneuten Vorsprache beim Ausländeramt am 07.01.2015 erklärte die Antragstellerin, in den letzten zwei Jahren in Sachen Passbeschaffung nichts unternommen zu haben, da ihr hierzu die finanziellen Mittel fehlten. Sie erklärte abermals, die für die Passbeantragung notwendige Geburtsurkunde nicht beschaffen zu könne, da sie keinen Kontakt zu Verwandten bzw. zu einem Vertrauensanwalt in ihrer Heimat habe. Die Antragsgegnerin wies die Antragstellerin erneut darauf hin, dass die Kosten für die Beschaffung der Passpapiere übernommen würden.
Mit Bescheid vom 17.03.2015 bewilligte die Antragsgegnerin der Antragstellerin Geldleistungen nach dem § 2 AsylbLG in Höhe von 335,42 € monatlich ab 01.01.2015, weil die Voraussetzungen (u.a. die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst verursacht) vorlägen. Die Geldleistungen setzten sich aus dem Bedarf für Nahrungsmittel, für Bekleidung und Schuhe, für Gesundheitspflege sowie dem zusätzlichen Geldbetrag zur Deckung persönlicher Bedürfnisse zusammen. Unter "Hinweise" wurde mitgeteilt, dass die bewilligte Hilfe fü...