Entscheidungsstichwort (Thema)
Behindertenrecht. behinderungsbedingte Abwesenheitszeiten der Erziehungsperson. Sicherstellung der Betreuung der Kinder. kein Anspruch auf Elternassistenz aus der Eingliederungshilfe. Möglichkeit eines Anspruchs auf Hilfe zur Weiterführung des Haushalts nach dem Sozialhilferecht. Anforderungen an den Leistungsnachrang der Eingliederungshilfe
Leitsatz (amtlich)
Leistungen zur Betreuung der Kinder eines Menschen mit Behinderung während verschiedener mehrstündiger Abwesenheitszeiten pro Woche dienen nicht den Zwecken der Elternassistenz. In einem solchen Fall kann aber ein Anspruch auf Leistungen zur Weiterführung des Haushalts bestehen.
Orientierungssatz
Für den Leistungsnachrang der Eingliederungshilfe nach § 91 Abs 1 SGB 9 2018 ist erforderlich, dass eine Hilfe von anderer Seite tatsächlich erfolgt und nicht bloß eine mehr oder weniger realistische Möglichkeit darstellt.
Tenor
I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 26. April 2023 wird für die Zeit bis zur Entscheidung des Senats verworfen und im Übrigen zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass der Antragsgegner die von der Antragstellerin mit der Beigeladenen zu 3 vertraglich vereinbarten Kosten zu zahlen hat, soweit nicht eine Vergütungsvereinbarung zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen zu 3 angewandt wird oder der Antragsgegner die Leistungen selbst erbringt.
II. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin (ASt) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen für die Betreuung und Versorgung ihrer Kinder während der Zeit, die sie zur Dialysebehandlung abwesend ist.
Die 1985 geborene ASt leidet unter Diabetes mellitus Typ 1, Blindheit rechts bei Netzhautablösung, Sehminderung links und Niereninsuffizienz (Gutachten des Medizinischen Dienstes Bayern vom 12.07.2022) sowie unter einer rezidivierenden depressiven Störung (Ärztlicher Bericht der Psychiaterin T vom 07.09.2022). Bei der ASt ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen G, B, H, RF und Bl festgestellt und sie hat Pflegegrad 1. Seit Mai 2022 erhält sie Blindengeld i.H.v. monatlich 685 EUR (Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 15.09.2022) sowie vom Antragsgegner (Ag) Blindenhilfe, derzeit i.H.v. monatlich 121,40 EUR (Bescheid vom 26.01.2023).
Die ASt hat neben zwei 2006 und 2010 geborenen Kinder, die im Landkreis D leben, einen 2015 geborenen Sohn und eine 2016 geborene Tochter, mit denen sie allein zusammen wohnt. Die Familie bezieht, soweit bekannt, existenzsichernde Leistungen vom Jobcenter M.
Dem beigeladenen Jugendamt ist die Familie der ASt schon seit Längerem bekannt. Im Oktober 2016 und im Mai 2017 erfolgten Inobhutnahmen des Sohnes der ASt wegen Erkrankungen der ASt und für die Zeit vom 10.11.2016 bis 07.12.2016 wurde Hilfe zur Erziehung in Form von Haushaltshilfe bewilligt.
Ende Februar 2022 beantragte die ASt beim Ag Blindenhilfe und Elternassistenz. Sie sei inzwischen fast völlig blind und benötige dringend Unterstützung, um ihren Alltag für sich und insbesondere mit den Kindern "in den Griff zu bekommen".
Seit September 2022 wird die ASt im Rahmen des intensiv betreuten Einzelwohnens durch die Diakonie M und O (Diakonie) betreut. Dafür beantragte sie beim Ag im August 2022 die Übernahme der Betreuungskosten.
Wie erstmals bereits 2016, lehnte die beigeladene Krankenkasse einen erneuten Antrag der ASt auf Haushaltshilfe mit Schreiben vom 06.09.2022 ab, weil es sich nicht um eine akute Erkrankung handle, sondern um eine laufende Behandlung.
Am selben Tag beantragte die ASt bei der Beigeladenen zu 1 Hilfen für die Betreuung und Versorgung ihrer Kinder. Laut Stellungnahme der Bezirkssozialarbeiterin habe sich die gesundheitliche Situation der ASt in den letzten Jahren drastisch verschlimmert. Während der Dialyse seien die Kinder nicht betreut. Für den Sohn der ASt stehe kein Hortplatz zur Verfügung. Ihre Tochter könne die ASt nicht zum Kindergarten bringen, der sich am anderen Ende der Stadt befinde. Der Vater der Kinder habe sich in den letzten Jahren als äußerst unzuverlässig, nicht erreichbar und nicht in der Lage gezeigt, die Betreuung der Kinder adäquat und ausreichend zu übernehmen.
Ende September 2022 wandte sich die Diakonie an den Ag, weil man bei der ASt einen besonders hohen Hilfebedarf sah (E-Mail vom 28.09.2022). Die ASt müsse nun mehrmals in der Woche zur Dialyse gehen. Sie habe zwei minderjährige Kinder zu versorgen und keine weitere familiäre Anbindung. Am Folgetag teilte die Diakonie dem Ag mit, man sehe aktuell von einer Höherstufung des Betreuungsschlüssels ab, da derzeit viele zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen eingeleitet würden.
Der Fachdienst des Ag kam in seiner Stellungnahme vom 26.10.2022 zu der Einschätzung, dass die Notwendigkeit einer Elternassistenz durch die Sinnesbeeinträchtigung der ASt begründet werde. Sie sei regiefähig und dazu in der La...