Entscheidungsstichwort (Thema)
Behindertenrecht. Eingliederungshilfe. Anspruch auf Elternassistenz für Kinderbetreuung bei behinderungsbedingter Abwesenheit. keine Erforderlichkeit der persönlichen Anwesenheit des Leistungsberechtigten. kein vorrangiger Anspruch gegen den Träger der Jugendhilfe
Leitsatz (amtlich)
Die Gewährung von Leistungen der einfachen Elternassistenz gem § 78 Abs 3 SGB IX erfordert nicht in jedem Fall zwingend die persönliche Anwesenheit der leistungsberechtigten Person (hier: Versorgung und Betreuung der schulpflichtigen Kinder im Haushalt während der Dialysebehandlung der Mutter; kein vorrangiger Anspruch gegen den Träger der Jugendhilfe).
Tenor
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, ab dem 01.06.2023, vorläufig bis zum 31.12.2023, die vertraglich vereinbarten Kosten der Betreuung und Versorgung der im Haushalt lebenden Kinder der Antragstellerin durch den Pflegedienst H. während der Dialysebehandlung der Antragstellerin zu übernehmen.
II. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Übernahme von Kosten der Kinderbetreuung während einer Dialysebehandlung als Leistung der Sozialen Teilhabe.
Die im Jahre 1985 geborene Antragstellerin leidet an einem Diabetes Mellitus Typ I mit gravierenden gesundheitlichen Folgeschäden, insbesondere an den Augen und Nieren. Es liegt ein Schwerbehindertenausweis mit einem Grad der Behinderung von 100 und den Merkzeichen "G", "H", "RF", "Bl" sowie "B" vor (siehe Blatt 228 f der Behördenakte des Antragsgegners).
Die Antragstellerin ist alleinerziehende Mutter zweier schulpflichtiger Kinder, geboren 2015 und 2016. Die Antragstellerin und ihre Kinder erhalten Bürgergeld vom Jobcenter Stadt M-Stadt. Mit Bescheid vom 07.11.2022 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin im Rahmen der Eingliederungshilfe Assistenzleistungen zur selbstbestimmten und eigenständigen Alltagsbewältigung; insoweit wird auf Blatt 163 ff der Behördenakte Bezug genommen.
Seit November 2022 benötigt die Antragstellerin dreimal wöchentlich eine Dialysebehandlung. Über den Antrag der Antragstellerin auf Übernahme der Kosten der Kinderbetreuung während der Zeit der behandlungsbedingten Abwesenheit von zuhause hat der Antragsgegner noch nicht entschieden. Mit dem Anhörungsschreiben vom 26.01.2023 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin dazu mit, die Kinderbetreuung während der Dialysezeiten könne nach seiner Rechtsauffassung nicht durch Leistungen der Elternassistenz finanziert werden, da solche Leistungen darin bestünden, dass die Klägerin bei der Betreuung und Pflege ihrer Kinder von einer Assistenzkraft unterstützt werde, und somit die persönliche Anwesenheit der Klägerin zwingend voraussetzten.
Mit Beschluss vom 07.03.2023 (M 18 E 23.478) verpflichtete das Bayerische Verwaltungsgericht (VG) M-Stadt die Landeshauptstadt M-Stadt als Trägerin der Kinder- und Jugendhilfe im Wege der einstweiligen Anordnung, die vertraglich vereinbarten Kosten für die Betreuung und Versorgung der Kinder der Antragstellerin durch den Pflegedienst H. für den Zeitraum von Dezember 2022 bis einschließlich Mai 2023 zu übernehmen. Die Landeshauptstadt M-Stadt habe einen Anspruch der Antragstellerin auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe aufgrund einer familiären Notsituation dem Grunde nach anerkannt. Somit könne sie der Antragstellerin nunmehr nicht entgegenhalten, sie sei nicht der vorrangig zuständige Leistungsträger. Es obliege der Landeshauptstadt nunmehr, bis zum Ende der vorläufigen Leistungsgewährung am 31.05.2023 das Hilfeverfahren ordnungsgemäß umzusetzen und gemeinsam mit der Antragstellerin für zukünftige Zeiträume eine sachgerechte Lösung zu finden.
Am 29.03.2023 hat die Antragstellerin das Sozialgericht München angerufen und zur Begründung insbesondere vorgetragen, es sei nicht geklärt, wer die Kosten für die Betreuung und Versorgung ihrer Kinder während der Dialyse ab dem 01.06.2023 übernehme. Eine Kostenübernahme sei jedoch zwingend erforderlich.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ab dem 01.06.2023 die vertraglich vereinbarten Kosten der Betreuung und Versorgung der Kinder der Antragstellerin durch den Pflegedienst H. während der Dialysebehandlung der Antragstellerin zu übernehmen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Eilbedürftigkeit liege nicht vor, weil die Leistungserbringung - aufgrund des Beschlusses des VG A-Stadt vom 07.03.2023 - bis Ende Mai 2023 sichergestellt sei. Zudem sei darin der Träger der Kinder- und Jugendhilfe verpflichtet worden, bis zum 31.05.2023 "das Hilfeverfahren ordnungsgemäß umzusetzen und eine zukünftige sachgerechte Regelung (...) zu finden". Auch ein Anordnungsanspruch sei nicht gegeben, weil eine Versorgung der Kinder bei Abwesenheit der Antragstellerin keine Leistung der Elternassistenz darstelle.
Die Antragstellerin hat hier...