Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren: Leistungsanspruch eines Drittstaatsangehörigen mit langfristiger Aufenthaltsberechtigung EG

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Drittstaatsangehöriger, der im Besitz einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung EG im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25.11.2003, ABl. EG L 16 vom 23.1.2004 S. 44, ist (hier: ausgestellt von Italien) und nach Deutschland einreist, ist rechtlich nicht erwerbsfähig und hat deshalb keinen Leistungsanspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 2 SGB II, solange er in Deutschland keinen Aufenthaltstitel nach § 38a AufenthG oder eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 AufenthG erwirkt.

Stattdessen hat der Drittstaatsangehörige Anspruch auf Leistungen nach § 23 SGB XII gegen den notwendig beizuladenden Sozialhilfeträger nach der st. Rspr des Bundessozialgerichts (u.a. BSG, 20. Januar 2016, B 14 AS 35/15 R, BSG, 3. Dezember 2016, B 4 AS 43/15 R). Hält sich der Drittstaatsangehörige länger als 6 Monate in Deutschland auf, ist das Ermessen auf Null reduziert. Dies gilt auch für den Leistungsanspruch der Familienmitglieder. Es kommt dabei nicht darauf an, dass diese sich ebenfalls länger als 6 Monate in Deutschland aufhalten.

Der Sozialhilfeträger hat sich die Kenntnis des Antragsgegners infolge des dort gestellten Leistungsantrags zurechnen zu lassen.

Während der Dauer des Verfahrens zur Erlangung eines Aufenthaltstitels nach § 38a AufenthG ist der Drittstaatsangehörige nicht von Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen, denn er hält sich nicht allein zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland auf.

 

Normenkette

SGB XII § 23 Abs. 1 Sätze 1, 3, Abs. 2, 3 S. 1; SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1, § 8 Abs. 2; AufenthG §§ 81, 38a, 30, 32; RL 2003/109/EG Art. 8; SGG §§ 99, 130 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 6. September 2016 teilweise aufgehoben.

II. Die Beigeladene zu 1 wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 22.7.2016 bis 24.8.2016 Leistungen nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe vorläufig zu bewilligen.

III. Der Beschwerdegegner wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 25.8.2016 bis 31.8.2016 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 299,60 €, für September 2016 in Höhe von 867,06 €, für Oktober von 81,81 € und für November in Höhe von 146,14 € vorläufig zu bewilligen.

IV. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

V. Die Beigeladene zu 1 übernimmt 1/3 und der Beschwerdegegner 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller in beiden Instanzen.

VI. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

 

Gründe

I.

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Bf) begehren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab 1.6.2016.

Der 1983 geb. Bf zu 1 und die 1980 geb. Bf zu 2 sind verheiratet. Die 2015 geb. Bf zu 3 ist ihre gemeinsame Tochter. Die Bf zu 2 ist schwanger. Sie sind nigerianische Staatsangehörige. Der Bf zu 1 besitzt ein von Italien erteiltes EU-Daueraufenthaltsrecht. Er ist im Oktober 2015 nach Deutschland eingereist. Er hatte nach eigenen Angaben ein konkretes Arbeitsplatzangebot bei A., das nicht zustande kam, da das Verfahren zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu lange dauerte. Zunächst lebte er von Ersparnissen und mietete in A-Stadt eine 25 qm große Einzimmerwohnung an, für die er monatlich 450 € Miete in bar zahlte (365 € kalt, 25 € Betriebskosten, 60 € Heizungsvorauszahlung). Am 7.3.2016 stellte er erstmals beim Antrags- und Beschwerdegegner (Bg) einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen. Dabei legte er eine bis 25.5.2016 befristete Fiktionsbescheinigung vor. Daraufhin wurden ihm mit Bescheid vom 11.3.2016 für die Zeit vom 1.3.2016 bis 31.5.2016 SGB II-Leistungen in Höhe von monatlich 820,22 € bewilligt. Von den Unterkunftskosten wurden nur 416,22 € als Bedarf anerkannt. Die Unterkunft sei zu teuer, der Bf zu 1 zur Kostensenkung jedoch nicht bereit, so dass von Anfang an nur die angemessenen Unterkunftskosten anerkannt würden.

Am 25.4.2016 beantragte der Bf zu 1 die Aufnahme der Bf zu 2 und 3 in die Bedarfsgemeinschaft. Sie seien am 2.4.2016 nach Deutschland eingereist und hätten sich bei der Meldebehörde angemeldet, seien aber wegen Probleme mit dem Pass der Bf zu 3 noch im April wieder nach Italien ausgereist. Nach ca. 2 Wochen wollten sie wieder zurück sein. Eine Entscheidung hierzu ist nicht aktenkundig.

Bereits am 28.4.2016 stellte der Bf zu 1 einen Weiterbewilligungsantrag für die Zeit ab 1.6.2016.

Am 12.5.2016 stellte der Bf zu 1 einen neuen Antrag für sich und seine Familie. Daraufhin wurden u.a. Kontoauszüge der letzten 3 Monate für das Konto der Bf zu 2 in Italien angefordert.

Aus einem Schreiben des Beigeladenen zu 1 vom 11.5.2016 geht hervor, dass die Bf zu 3 am 16.4.2016 im Klinikum A-Stadt behandelt worden ist.

Laut Telefonvermerk vom 30.5.2016 haben die Bf zu 2 einen Auf...

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