Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Interessenabwägung: Eilbedürftigkeit als wesentlicher Abwägungsbelang. keine Leistungen für einen länger zurückliegenden Zeitraum
Leitsatz (amtlich)
Auch bei der Interessensabwägung nach § 86b Abs 1 S 1 SGG ist die Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Anordnung ein wesentlicher Abwägungsbelang. Es geht auch hier um eilbedürftigen Rechtsschutz. Leistungen für einen länger zurückliegenden Zeitraum können daher regelmäßig nicht erlangt werden.
Tenor
I. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen ein Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 22.03.2010. Zugleich hat der Antragsteller eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil erhoben.
Mit Urteil vom 22.03.2010 wies das Sozialgericht Augsburg eine Klage gegen einen Änderungsbescheid vom 22.02.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.07.2009 zurück. In dem strittigen Änderungsbescheid wurde das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 01.11.2006 bis 31.03.2007 für den 1956 geborenen Antragsteller aufgrund zahlreicher Absenkungsbescheide nach § 31 SGB II neu berechnet. Nach dem Urteil des Sozialgerichts waren alle Absenkungsbescheide bestandskräftig. In der Summe ging es um einen Absenkungsbetrag von insgesamt 350,- Euro. Die Berufung wurde im Urteil ausdrücklich nicht zugelassen.
Mit Schreiben vom 14.04.2010, beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingegangen am 16.04.2010, hat der Antragsteller eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil vom 20.03.2010 erhoben und zugleich eine "einstweilige Anordnung" beantragt. Er begehre die sofortige Nachzahlung der diskriminierenden Kürzungen. Die Absenkungen seien unberechtigt gewesen und hätten zu einer erheblichen Notlage geführt. Darüber hinaus wolle er ein angemessenes Schmerzensgeld.
Der Antragsteller den Antrag sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig zu verpflichten, die Leistungen, die infolge der Absenkungen in den Monaten November 2006 bis März 2007 einbehalten wurden, zuzüglich ein angemessenes Schmerzensgeld zu gewähren.
II.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Antrag ist zulässig, jedoch nicht begründet. Zuständig ist für die Entscheidung über den Eilantrag gemäß § 86b Abs. 1 S. 4, Abs. 2 S. 3 SGG das Gericht der Hauptsache. Solange die Nichtzulassungsbeschwerde beim LSG anhängig ist, ist das LSG auch das Gericht der Hauptsache (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 9. Auflage 2008, § 86b Rn. 11 und 37). Auf die Frage, ob der Beschwerdewert nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG (750,- Euro nach § 144 Abs. 1 SGG) erreicht ist, kommt es nicht an, weil kein Beschwerdeverfahren vorliegt.
Es ist unklar, wie die Leistungskürzungen tatsächlich erfolgt sind. Der strittige Änderungsbescheid ist erst etwa ein Jahr nach den Absenkungen erfolgt. Die Leistungsminderungen hatten ihre Rechtsgrundlage wohl in den vorangegangenen Absenkungsbescheiden, die nach dem Urteil des Sozialgerichts alle bestandskräftig sind. Gegen bestandskräftige Bescheide ist einstweiliger Rechtsschutz von vornherein ausgeschlossen.
Es kann hier aber offen bleiben, ob es sich um ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2, S. 2 SGG (Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Nichtzulassungsbeschwerde und Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung) oder um einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG handelt. Obwohl dafür unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe gelten, kann hier keiner dieser Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz erfolgreich sein, weil der Antragsteller Leistungen für einen längst vergangenen Zeitraum von November 2006 bis März 2007 begehrt.
Auch bei der Interessenabwägung nach § 86b Abs. 1 S. 1 SGG ist neben der Erfolgsaussicht in der Hauptsache von besonderer Bedeutung, ob eine Dringlichkeit für das im Eilverfahren erhobene Begehren vorliegt. Dies ergibt sich daraus, dass auch dieses Verfahren zum einstweiligen Rechtsschutz gehört, also eilbedürftigen Rechtsschutz gewähren soll. Bestätigt wird dies dadurch, dass die Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung nach § 86b Abs. 1 S. 2 SGG im Ermessen des Gerichts steht (Keller a.a.O., § 86b Rn. 10a), also selbst bei einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht regelmäßig die Vergangenheit korrigiert wird. Ob im Ausnahmefall der offenbaren Rechtswidrigkeit des belastenden Verwaltungsaktes die Eilbedürftigkeit nicht erforderlich ist (so Keller a.a.O., § 86b Rn. 12f), braucht nicht entschieden zu werden, weil dieser Ausnahmefall hier nicht vorliegt.
Für die einstweilige Anordnung ergibt sich die Voraussetzung der Dringlichkeit der Anordnung (sog. Anordnungsgrund) unmittelbar aus dem Gesetz (§ 86b Abs. 2 S. 2 SGG "... Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ersch...