Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistungen. Grundleistungen. Anspruchseinschränkung. Ablehnung des Asylantrags als unzulässig wegen Zuständigkeit eines anderen Staates für das Asylverfahren. verfassungskonforme Auslegung. Erforderlichkeit eines pflichtwidrigen Verhaltens des Leistungsberechtigten. Nichtausreise trotz Hinweises auf die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise. Wegfall der Voraussetzungen für die Anspruchseinschränkung nach Ablauf der Überstellungsfrist

 

Leitsatz (amtlich)

1. Als weitere Voraussetzung einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 7 AsylbLG ist - im Wege einer verfassungsgemäßen Auslegung - nach ständiger Rechtsprechung des Senats ein pflichtwidriges Verhalten zu fordern. Dieses kann in einer unterbliebenen freiwilligen Ausreise gesehen werden, wenn der betreffende Ausländer zuvor auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.

2. Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 7 AsylbLG hat keinen Bestand, wenn ihre Voraussetzungen entfallen (hier: wegen Ablaufs der Überstellungsfrist); vielmehr wird sie rechtswidrig und ist aufzuheben.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 30. Mai 2022 in den Ziffern I. und II. abgeändert und die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. Mai 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. August 2022 angeordnet; im Übrigen wird die Beschwerde gegen die Ziffern I. und II. zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat neun Zehntel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.

III. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt S, B, beigeordnet.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller (ASt) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der ASt, nach eigenen Angaben 2003 geboren und afghanischer Staatsangehöriger, reiste erstmals am 08.12.2021 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Seit Anfang Januar 2022 ist er in einer Aufnahmeeinrichtung im Gebiet des Antragsgegners (Ag) untergebracht. Dort beantragte er die Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG. Der Ag bewilligte dem ASt daraufhin mit Bescheid vom 11.01.2022 als Grundleistungen monatlich 122 EUR für die Zeit vom 03.01.2022 bis 31.12.2022, solange sich die Verhältnisse nicht änderten, monatsweise und nicht als Dauerleistung. Ernährung, Unterkunft, Heizung, Wohnungsinstandhaltung, Haushaltsenergie, Kleidung, Körperpflegeartikel, Hygieneartikel, WLAN, Babyerstausstattung Kinderwagen und Schulbeihilfe würden in der Ankereinrichtung als Sachleistungen gewährt.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte mit Bescheid vom 08.04.2022 den Asylantrag des ASt als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote bestünden, und ordnete die Abschiebung des ASt nach Bulgarien an. Beim Eurodac-Abgleich hätten sich Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union, nämlich Bulgarien, ergeben. Am 30.12.2021 sei ein Übernahmeersuchen gestellt worden und die bulgarischen Behörden hätten mit Schreiben vom 13.01.2022 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags erklärt. Daher sei der in Deutschland gestellte Asylantrag unzulässig. Es lägen weder zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote noch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse vor.

Gegen den Bescheid des BAMF wurde kein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt.

Dies teilte die Regierung von Unterfranken als Zentrale Ausländerbehörde Unterfranken dem Ag unter dem 13.04.2022 mit. Auf Nachfrage des Ag wurde zudem angegeben, der ASt sei bisher nicht über die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise informiert worden.

Mit Schreiben vom 20.04.2022 hörte der Ag den ASt zu einer beabsichtigten Einschränkung der Leistungen nach dem AsylbLG an. Der ASt sei im Besitz einer Aufenthaltsgestattung. Das BAMF habe den Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Bulgarien angeordnet. Ihm stünden daher bis zur Ausreise lediglich eingeschränkte Leistungen zu. Eine Äußerung des ASt erfolgte nicht.

Mit Bescheid vom 05.05.2022 stellte der Ag sodann fest, dass der Leistungsanspruch des ASt vom 01.06.2022 bis 30.11.2022 eingeschränkt sei, lehnte den Antrag auf Grundleistungen für diese Zeit ab, hob den Bescheid vom 11.01.2022 für die Zeit ab 01.06.2022 auf und bewilligte dem ASt für die Zeit vom 01.06.2022 bis 30.11.2022 eingeschränkte Leistungen als Sachleistungen. Der Bedarf an Ernährung, Bekleidung, Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege werde in der Aufnahmeeinrichtung sichergestellt. Der Asylantrag des ASt sei als unzulässig abgelehnt worden, zuständig für das Asylverfahren sei ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union. Mit der Entscheidung des BAMF seien die Voraussetzungen für eine Anspruchseinschränkung erfüllt; der Bescheid des BAMF entfalte Bindungswirkung. Aufgrund der Anspruchseinschränkung sei ein An...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?