Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsarzt. Bedingungen der Wirtschaftlichkeitsprüfung. Grenze des Off-Label-Use. Anwendung von intravenösen Immunglobulinen bei Erwachsenen mit HIV-Infektion. Rote Liste. keine Erweiterung der Einsatzfähigkeit von Arzneimitteln über Zulassung
Leitsatz (amtlich)
1. Zu den Bedingungen der Wirtschaftlichkeitsprüfung.
2. Zu den Grenzen eines "Off-Label-Use".
3. Die Anwendung von intravenösen Immunglobulinen bei Erwachsenen mit HIV-Infektionen betrifft ein erweitertes Anwendungsgebiet, das gemäß § 29 Abs 3 Nr 3 AMG einer Neuzulassung bedürfte.
4. Der "Roten Liste" kommt nicht die Aufgabe zu, die Einsatzfähigkeit von Arzneimitteln für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung über die arzneimittelrechtliche Zulassung hinaus zu erweitern.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 19. Mai 2003 wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger hat dem Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die gegen ihn verhängte Regressmaßnahme bei den Einzelverordnungen wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise von Immunglobulinen bei HIV-Patienten.
Der Kläger ist als praktischer Arzt in M. niedergelassen und nimmt seit April 1993 an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Die Beigeladene zu 2) mit Schreiben vom 24. Juni 1998 und die Beigeladene zu 3) mit Schreiben vom 25. Juni 1998 haben Antrag auf Prüfung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Verordnungsweise des Klägers für das Quartal 3/97 gestellt.
Der Kläger hat sich hierzu mit Schriftsatz vom 18. September 1998 geäußert. Seit 1986 bestehe der Schwerpunkt seiner ärztlichen Tätigkeit in der Behandlung und Betreuung von HIV-Infizierten und AIDS-Patienten, zunächst im S. Krankenhaus, dann vier Jahre in der internistischen HIV-Schwerpunktpraxis Dr.L. in M. und seit April 1993 in eigener Praxis. Er sei Mitglied der Bayerischen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte (BAGNÄ) und Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte (DAGNÄ). Die DAGNÄ-Vorstands-Empfehlung zur Immunglobulintherapie bei HIV-Infektion sei von Beginn an kontrovers diskutiert worden. Bei erfahrenen HIV-Behandlern im gesamten Bundesgebiet sei dann auch die Indikationsbreite ausgeweitet worden. Immunglobuline würden von ihm eingesetzt zur Behandlung des sekundären Immunmangelsyndroms bei fortgeschrittener HIV-Infektion mit deutlicher Krankheitssymptomatik als Folge des humoralen Immundefizits bei Thrombopenie. Das Schwergewicht des Immunglobulineinsatzes liege also besonders bei Patienten mit rezidivierenden bakteriellen Infektionen. Eine zusätzliche Besonderheit seines HIV-Patientenklientels bestehe in der Doppelinfektion durch das Hepatitis-C-Virus. HIV- und HCV-Doppelinfizierte seien durch Interferon nur sehr schlecht zu therapieren und bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt gebe es keine gültigen Therapierichtlinien. Immunglobuline setze er nur bei Langzeitinfizierten mit Krankheitssymptomatik und antiviraler Therapie ein. Der erhöhte Anteil seiner Patienten unter Immunglobulintherapie erkläre sich aus seiner Praxisstruktur, bestehend aus HIV-, HCV-Doppelinfizierten, Drogenbenutzern oder Substituierten, Langzeit-HIV-Erkrankten und seiner Stellung als Einzigbehandler. Fast sämtliche Patienten würden nur von seiner Praxis wegen ihrer HIV-Infektion betreut und suchten nicht mehrere Zentren gleichzeitig auf. Klinikeinweisungen von HIV-Patienten würden in der Regel nicht nötig. Zu den Prüfanträgen der AOK Bayern und des VdAK hat der Kläger einzelne Fälle mit Diagnosen dargestellt.
Der Prüfungsausschuss Ärzte München Stadt und Land hat mit Bescheid vom 3. Februar 1999 gegen den Kläger einen Regress bei den Einzelverordnungen in Höhe von DM 189.379,61 festgesetzt. Der Kläger überschreite mit einem Arzneikostenfallwert von DM 2.067,46 den Fallwert der Arztgruppe mit DM 78,04 um + 2.549,1 %. Damit würden die durchschnittlichen Verordnungskosten des Klägers je Behandlungsfall den Durchschnittwert der Vergleichsgruppe in einem offensichtlichen Missverhältnis übersteigen. Der Vertragsarzt habe neben der Verordnung von Immunglobulinen auch eine antiretrovirale Therapie durchgeführt. Die Kombination von Immunglobulinen mit antiretroviralen Substanzen entspreche nicht den Empfehlungen der DAGNÄ zur HIV-Therapie, der Kläger habe deshalb unwirtschaftliche Verordnungen getätigt.
Hiergegen richtet sich der Widerspruch des Klägers vom 1. März 1999. Die Feststellungen in dem Prüfbescheid würden neben der Sache liegen, da seinem Praxisschwerpunkt auf dem Gebiet der HIV-Behandlung nicht entsprechend Rechnung getragen werde. Seine Verordnungsweise sei wirtschaftlich, da die verordneten Therapien sowohl durch die Besonderheiten des Praxisschwerpunktes als auch durch die Struktur des Patientenstammes bedingt seien. Der Einwand, dass eine Kombination von Immunglobulinen mit antiretroviralen...