Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewaltopferentschädigung. Gewalttat. Häftlinge im Strafvollzug. Versagungsgründe. Unbilligkeit. gefängniseigentümliche Gefahr

 

Orientierungssatz

1. Zum Anspruch auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen der Folgen einer Gewalttat (hier: Verlust der Sehfähigkeit auf einem Auge einschließlich der Amputation des Augapfels) die das Opfer während der Verbüßung einer Haftstrafe durch einen Mithäftling erlitt.

2. Ausgehend von dem Gedanken, dass die Verurteilung eines Täters wegen der von ihm begangenen Straftat eine Zäsur zwischen dem früheren strafbaren Verhalten des Täters und dem anschließend auf seine Resozialisierung ausgerichteten Strafvollzug darstellt, dürfen Verletzungen eines Häftlings durch Mitgefangene, selbst wenn sich dabei gefängniseigentümliche Gefahren verwirklichen, dem Strafgefangenen nicht als mittelbare Folge seiner eigenen Straftat leistungsausschließend zugerechnet werden. Stattdessen ist lediglich auf das konkrete Verhalten des Opfers im Strafvollzug selbst abzustellen, um die Voraussetzungen eines Versagungsgrundes nach § 2 Abs 1 S 1 OEG zu prüfen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 29.03.2007; Aktenzeichen B 9a VG 2/05 R)

 

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.03.2003 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass dessen Tenor wie folgt lautet:

1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 07.05.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2002 dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger Leistungen nach dem OEG aufgrund der am 08.12.1999 erlittenen Verletzungen zu erbringen.

2. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

II. Der Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger wegen einer am 08.12.1999 erlittenen Gewalttat Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) zu versagen sind, weil das Opfer in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) eine Haftstrafe verbüßte und die Tat von einem Mithäftling verübt wurde.

Der 1972 in Togo geborene Kläger stellte im März 2000 Antrag auf Leistungen nach dem OEG, weil er am 08.12.1999 um ca. 19.00 Uhr in der Küche der Strafhaftabteilung D 3 der JVA W. von dem Mitgefangenen A. R. tätlich angegriffen worden sei, so dass er auf dem linken Auge erblindet sei. Anlass für den Streit sei gewesen, dass sich der Kläger in einer aushängenden Liste für ein Fußballspiel eingetragen habe, womit der o.g. Täter nicht einverstanden gewesen sei.

Der Beklagte zog u.a. medizinische Unterlagen der Augenklinik der J.-Universität W. bei. Danach ist der Kläger am 16.02.2000 nach schwerster perforierender Bulbusverletzung operiert und sein linker Augapfel entfernt worden.

Der Beklagte zog außerdem das Strafurteil des Amtsgerichts W. vom 25.04.2000 (Az.: 231 Js 10238/00) bei, mit dem A. R. wegen der am Kläger begangenen schweren Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden war. Der 1972 geborene Täter ist Kosovo-Albaner. Laut BZR-Auszug war er bereits mehrmals strafrechtlich in Erscheinung getreten und zwar wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, unerlaubter Einreise, Urkundenfälschung, fahrlässiger Körperverletzung, Betrug und zuletzt wegen gefährlicher Körperverletzung am 05.06.1998. Er verbüßte seit 24.10.1999 eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 5 Monaten.

Nach Prüfung, ob sich der Kläger ausländerrechtlich in der Bundesrepublik aufhalten dürfe, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 19.10.2000 den Antrag des Klägers auf Beschädigtenversorgung ab, weil er nicht unter den Personenkreis des § 1 Abs.4 und 5 OEG falle, da sein Aufenthalt im Bundesgebiet nicht rechtmäßig sei.

Der Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid war erfolglos. Am 19.02.2001 erging ein zurückweisender Widerspruchsbescheid.

Das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht München (S 30 VG 12/01) endete durch Annahme des vom Beklagten am 26.11.2001 unterbreiteten Vergleichsangebots, mit dem sich dieser im Hinblick auf ein neues BSG-Urteil (Breithaupt 2001, 729 ff) bereit erklärte, unter Zugrundelegung eines rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers während der Strafhaft eine neue Entscheidung zu treffen.

Der Beklagte führte daraufhin nochmals Ermittlungen durch, lehnte aber mit Bescheid vom 07.05.2002 den Antrag des Klägers auf Beschädigtenversorgung erneut ab. Der Kläger sei zwar am 08.12.1999 Opfer einer Gewalttat im Sinne des § 1 OEG geworden; nach § 2 Abs.1 Satz 1 OEG seien jedoch Leistungen zu versagen, wenn es unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Dies sei hier der Fall. Der Kläger habe sich zur Zeit der Gewalttat wegen einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren in Strafhaft befunden. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18.04.2001) sei zu prüfen gewesen, ob die Straftat mittelbar wesentliche Bedingung für den Angriff gewesen sei. Davon sei nur dann nicht auszugehen, wenn e...

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