Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewaltopferentschädigung: Befürchtung der Verletzung Angehöriger bei Kenntniserlangung von einem "Amoklauf"

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Unmittelbarkeit der Schädigung durch einen Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG im Falle eines "Amoklaufs".

 

Orientierungssatz

1. Der Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt eine unmittelbare gesundheitliche Schädigung des Opfers, die auch psychischer Natur sein kann, voraus (BSG, 16. Dezember 2014, B 9 V 1/13 R). Die Unmittelbarkeit wird grundsätzlich als enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente ohne örtliche und zeitliche Zwischenglieder verstanden.

2. An der Unmittelbarkeit fehlt es bei der Übermittlung von Nachrichten über Gewalttaten durch die Medien an Personen ohne enge personale Beziehung zum Betroffenen. Bloße Befürchtungen genügen nicht.

3. Es ist nicht ausreichend, wenn die Angehörigen von einem "Amoklauf" nur derart betroffen sind, dass sie sich in der Nähe des Tatorts - also dort, wo Schüsse fallen etc. - aufhalten und gegebenenfalls sogar psychische Beeinträchtigungen erleiden, ohne selbst Opfer physischer Gewalt zu werden, und wenn der Betroffene (Sekundäropfer) hiervon Kenntnis erhält.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 12.02.2020; Aktenzeichen B 9 V 45/19 B)

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 25. Oktober 2018 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten wegen Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 2006 geborene Kläger beantragte am 30.08.2016 beim Beklagten Leistungen für Gewaltopfer nach dem OEG unter Berufung auf ein bestehendes posttraumatisches Stresssyndrom wegen einer Schädigung durch die als "Amoklauf im O. (O.) B-Stadt" vom 22.07.2016 bekannt gewordenen Straftaten. Dabei befand sich der Kläger nach Angaben der Klägerseite nicht am Ort des Geschehens, sondern in bzw. vor der Sporthalle eines Gymnasiums in B-Stadt, in der er an einem Fechttraining teilgenommen hatte. Im Bereich des O. befand sich zum Tatzeitpunkt die Familie des Klägers, nämlich seine Eltern und seine Schwester, die der Kläger, der von dem "Amoklauf" wusste, zum Tatzeitpunkt telefonisch nicht erreichen konnte. Nach Angaben der Klägerseite habe der Kläger nach Beendigung des Trainings ca. 40 Minuten mit einer anderen "Fechtmutter", Frau G., die sich seiner angenommen habe, bzw. alleine warten müssen und sei durch die bestehende Ungewissheit psychisch beeinträchtigt worden; er habe (auch mit Blick auf vorbeifahrende Rettungsfahrzeuge) um sein eigenes Leben sowie das seiner Familie gefürchtet.

Mit Bescheid vom 12.09.2017 lehnte der Beklagte den Antrag ab, da kein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff gegen den Kläger im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG vorliege, weil der Kläger kein Augen- bzw. Ohrenzeuge des "Amoklaufs" gewesen sei. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2017 als unbegründet zurück. Aus rechtlichen Gründen sei es nicht möglich, dem Kläger Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines sogenannten Schockschadens seien im Hinblick auf ein einschlägiges Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und auf die Rechtsprechung des Bayerischen Landessozialgerichts (BayLSG) nicht gegeben.

Hiergegen hat sich die am 18.12.2017 zum Sozialgericht (SG) München erhobene Klage gerichtet. Zur Begründung ist vor allem darauf hingewiesen worden, dass gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ein Anspruch auch bestehe, wenn eine andere Person durch den Angriff geschädigt würde und der Betroffene deshalb gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen erlitten habe. Die Ablehnung durch den Beklagten verkenne, dass der Kläger nicht durch die Benachrichtigung darüber, was die Eltern und die Schwester erlebt hätten, einen Schockschaden erlitten habe, sondern durch die Ungewissheit, ob er seine Familie jemals wiedersehen würde.

Mit Urteil vom 25.10.2018 hat das SG die Klage auf Aufhebung des Bescheids und Verurteilung zu Leistungen der Opferentschädigung abgewiesen, da vorliegend der Schutzbereich des OEG seine Grenzen habe. Ein von der Rechtsprechung vorausgesetztes

Schockerlebnis habe der Kläger nicht erlitten.

Am 11.01.2019 hat der Kläger gegen das Urteil beim BayLSG Berufung eingelegt und (auch) für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung der Bevollmächtigten beantragt.

Mit Beschluss vom 10.05.2019 hat der Senat mangels hinreichender Erfolgsaussichten den Antrag auf PKH abgelehnt.

Mit Schriftsatz vom 26.06.2019 hat der Kläger sodann die Berufung begründet und im Wesentlichen vorgetragen, dass nach seiner Auffassung eine unmittelbare Schädigung in Form eines sogenannten Schockschadens vorliege, der gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zu entschä...

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