Entscheidungsstichwort (Thema)

Urteil von grundsätzlicher Bedeutung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Verhaltensbeobachtungen im Rahmen der Blindheitsbegutachtung sind in der Regel nicht geeignet, mit der rechtlich erforderlichen Zuverlässigkeit Blindheit nachzuweisen bzw. zwischen einer hochgradigen Sehbehinderung und einer Blindheit im Sinne des BayBlindG zu differenzieren (vgl. die Urteile des Senats vom 16.09.2015 L 15 BL 2/13 und 27.09.2016 L 15 BL 11/15). Sie ermöglichen grundsätzlich (nur) einen aufschlussreichen ergänzenden Blick auf die Gesamtsituation des sehbehinderten Menschen hinsichtlich seines Sehvermögens.

2. Für die hochgradige Sehbehinderung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 BayBlindG besteht kein abgesenkter Beweismaßstab.

3. Die Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 3 BayBlindG sind nicht bereits dadurch erfüllt, dass zugunsten des sehbehinderten Menschen im Verfahren nach dem SGB IX ein Einzel-GdB von 100 oder die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H wegen schwerer Störungen seines Sehvermögens festgestellt worden sind.

Eine Bindungswirkung besteht nicht; vgl. das Urteil des Senats vom 20.12.2018 L 15 BL 6/17.

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des SG Augsburg vom 02.02.2022 insoweit aufgehoben, als darin der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2020 verurteilt worden ist, dem Kläger vor Juli 2021 Blindengeld zu gewähren; die Klage wird insoweit abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für das erstinstanzliche Verfahren und das Berufungsverfahren in Höhe von 8/10 zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers und Berufungsbeklagten (im Folgenden: Kläger) auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.

Der 1974 geborene Kläger beantragte am 06.09.2019 beim Beklagten und Berufungskläger (im Folgenden: Beklagter) die Gewährung von Blindengeld für hochgradig sehbehinderte Menschen unter Verweis auf den bereits seit Oktober 2017 festgestellten Grad der Behinderung (GdB) für seine Sehbehinderung. In dem beigefügten ärztlichen Bericht des Augenarztes K vom 04.09.2019 wurden als Visusbefunde rechts und links 1/32 angegeben. Diese Befunde wurden auch in dem vom Beklagten eingeholten Befundbericht vom 27.09.2019 bestätigt; als augenärztliche Diagnose wurden rechts und links Retinitis pigmentosa gestellt. Das Gesichtsfeld sei bis 0 Grad eingeschränkt.

Im Auftrag des Beklagten erstellte P (L-Universität M) am 05.04.2020 ein augenfachärztliches Gutachten aufgrund Untersuchung vom 11.02.2020. In dem Gutachten berichtete der Sachverständige, dass der Kläger bei der Untersuchung sehr gut orientiert gewesen sei und sich gut zurechtgefunden habe; er bewege sich völlig frei im Raum, halte Blickkontakt und greife die Hand zum Gruß. Der vom Kläger angegebene Visus liege bei 0,02 für die Ferne. Im Gesichtsfeld bestehe eine konzentrische Einengung auf 5 Grad bei verbliebenen Restinseln auf beiden Augen. Die Fixation sei als schlecht und die Angaben seien als unsicher zu bewerten. Der Kläger habe angegeben, dass das Lesen im Wesentlichen nur noch mit einem Handyscanvergrößerungsgerät möglich sei. Nach Angaben des Klägers sei vor allem das zentrale Sehen nicht mehr möglich; er müsse daher immer exzentrisch fixieren. Die aktuellen Beschwerden bestünden in einer zunehmenden Sehminderung im Zentrum, Nachtblindheit und Störung des Farbensehens. Bis 2004 sei der Kläger berufstätig gewesen (Verkaufsleiter im Bereich Logistik). Seitdem beziehe er Erwerbsunfähigkeitsrente. Im Haushalt finde er sich noch gut eigenständig zurecht und er sei auch noch gut mobil, komme ohne Hilfsmittel wie Gehstock, Blindenhund oder Begleitpersonen zurecht. P hat die Diagnosen retinale Dystrophie, Rucknystagmus und Cataracta incipiens (hintere Schalentrübung) gestellt. Blindheit sei wegen Diskrepanzen zwischen den Angaben des Klägers und den objektiven Befunden (vgl. u.a. die geschilderte Verhaltensbeobachtung) nicht nachgewiesen.

Mit Bescheid vom 13.05.2020 lehnte der Beklagte den Blindengeldantrag ab, da Blindheit nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen habe werden können, weil weder die Angaben zur Sehschärfe noch die zum Gesichtsfeld durch die objektivierten Verfahren und die Verhaltensbeobachtung gestützt hätten werden können. Es bestünden erhebliche Zweifel am Vorliegen von Blindheit bzw. einer hochgradigen Sehbehinderung.

Über seine Bevollmächtigten erhob der Kläger am 04.06.2020 Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass aus dem Gutachten von P beidseits ein Visus von 0,02 mit bester Korrektur für die Ferne hervorgehe und dass die Gesichtsfelduntersuchung nach Goldmann auf beiden Augen massive Einschränkungen ergeben habe. Nach dem Gutachten sei der Kläger blind im Sinne des BayBlindG. Im Hinblick auf die Verhaltensb...

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