Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung. Besuch einer privaten Grundschule mit Ganztagsangebot. Geltendmachung von Fahrtkosten von der Schule nach Hause. Erforderlichkeit der Kosten. Vorhandensein anderer geeigneter Einrichtungen in Wohnsitznähe. Wahlrecht der Eltern hinsichtlich der Schule. Behinderungsbedingtheit der Kosten. Vorhandensein geeigneterer Mittel zur Erfüllung der Zwecke der Eingliederungshilfe. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
Als Eingliederungshilfemaßnahme in Betracht kommen grundsätzlich alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung einer geeigneten Schulbildung erforderlich sind, um die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mindern und so das im Gesetz formulierte Ziel der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erreichen. Die Übernahme von Fahrtkosten als Eingliederungshilfemaßnahme setzt aber eine Prüfung der Erforderlichkeit im konkreten Fall voraus. Der Fahrtkostenaufwand kann z.B. dann nicht erforderlich sein, wenn es andere wohnsitznähere geeignete Einrichtungen gibt, die eine angemessene Schulbildung sicherstellen, wenn der Fahrtkostenaufwand nicht behinderungsbedingt ist und wen es ein besseres, "geeigneteres" Mittel - etwa die Bewilligung eines Schulwegbegleiters - gibt, um die Erfüllung der Zwecke der Eingliederungshilfe zu erreichen. Bei Fehlen der konkreten Erforderlichkeit ist eine Übernahme der Fahrtkosten auch nicht als "Annexleistung" zu sonstigen Eingliederungshilfemaßnahmen geboten.
Orientierungssatz
1. Eine Übernahme von Fahrtkosten für die Beförderung von der Schule nach Hause als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem SGB 12 scheidet wegen fehlender Erforderlichkeit der Fahrtkosten aus, wenn es andere wohnsitznähere geeignete Einrichtungen gibt, die eine angemessene Schulbildung sicherstellen würden.
2. Aus dem Wahlrecht der Eltern hinsichtlich der Schule folgt keine Pflicht des Sozialhilfeträgers zur Übernahme aller mit der getroffenen Wahl verbundenen Kosten. Einen Automatismus zwischen bewilligter Eingliederungshilfemaßnahme und Übernahme von Beförderungskosten gibt es nicht.
3. Die Übernahme der Fahrtkosten kommt auch dann nicht in Betracht, wenn die Fahrtkosten nicht behinderungsbedingt sind, also auch ein nicht behindertes Kind gleichen Alters auf die Beförderung durch Dritte angewiesen wäre.
4. Die Übernahme der Fahrtkosten ist ferner dann abzulehnen, wenn es ein besseres geeigneteres Mittel gibt, um die Erfüllung der Zwecke der Eingliederungshilfe zu erreichen (hier: Schulwegbegleitung zum Trainieren der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel).
5. Das Elternrecht nach Art 6 Abs 2 S 1 GG beinhaltet keinen unmittelbaren Leistungsanspruch und auch keinen Leistungsanspruch kraft Ausstrahlung über sozialhilferechtliche Vorschriften.
Tenor
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.09.2017 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 23.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.07.2017 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme von Fahrtkosten für den Zeitraum vom 16.12.2016 bis Ende des Schuljahres 2018 streitig.
Der 2007 geborene Kläger ist schwerbehindert (Grad der Behinderung 100, Merkzeichen "G", "B", "H"; Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 14.03.2008). Er leidet unter Morbus Down mit einem Herzfehler, Hypothyreose, einer kombinierten Entwicklungsstörung und Inkontinenz. Seit dem Schuljahr 2014/2015 besucht er die A-Schule, A-Str., A-Stadt (J). J ist eine staatlich genehmigte private Grundschule mit Ganztagsangebot, insbesondere mit pädagogischer Nachmittagsbetreuung. Ab dem Schuljahr 2016/2017 erfolgte die Nachmittagsbetreuung des Klägers im Hort (A-Hort; im Folgenden: JH) unter der oben genannten Adresse.
Mit Schreiben vom 10.03.2014 beantragte der Kläger durch seine Eltern die individuelle Schulbegleitung im Rahmen der Eingliederungshilfe. Mit Bescheid vom 05.06.2014 bewilligte der Beklagte für das Schuljahr 2014/2015 Leistungen für einen Schulbegleiter und lehnte die Schulbegleitung während des Schulweges ab. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Der Kläger benötige für den Schulweg eine Begleitung.
Auf entsprechenden Verlängerungsantrag hin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 08.07.2015 (in Bezug auf den wöchentlichen Stundenumfang abgeändert durch Bescheid vom 15.09.2016) für die Schuljahre 2015/16 und 2016/17 weiter einen Schulbegleiter für die Unterrichtszeit im Rahmen des Ganztagesangebots. Der Antrag auf Schulwegbegleitung wurde erneut abgelehnt.
Auch gegen den Bescheid vom 08.07.2015 legte der Kläger durch seine Eltern Widerspruch ein. Die beantragte individuelle Schulwegbegleitung sei zu Unrecht abgelehnt worden. Nur aufgrund seiner Behinderung sei der Kläger nicht in der Lage, den Schulweg selbstständig mit öffent...