Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Blindengeldanspruch nach dem BayBlindG bei einer zerebralen Beeinträchtigung. Prüfung möglicher blindheitsbedingter Mehraufwendungen. Darlegungs- und Beweislast für den Einwand der Zweckverfehlung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Einem Blindengeldanspruch nach dem BayBlindG steht nicht entgegen, dass nicht der eigentliche Sehvorgang betroffen, sondern die Verminderung bzw. Aufhebung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit durch eine allgemeine zerebrale Beeinträchtigung des sehbehinderten Menschen verursacht ist – etwa bedingt durch eine schwere Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörung (Fortsetzung der Rechtsprechung LSG München, 19. Dezember 2016, L 15 BL 9/14).

2. Im Falle eines erhobenen Zweckverfehlungseinwands ist im Einzelfall zu prüfen, ob bei der Ausprägung des individuellen Krankheitsbildes blindheitsbedingte Mehraufwendungen in Betracht kommen; der pauschale Verweis auf die zugrundeliegende Gesundheitsstörung genügt nicht.

3. Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung stellen keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar; es muss sich vielmehr um blindheitsspezifischen Aufwand handeln.

4. Maßgeblich bei der Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall blindheitsbedingte Mehraufwendungen möglich sind, ist die objektive Situation des betroffenen blinden Menschen. Ob blindheitsbedingte Mehraufwendungen von dem Betroffenen tatsächlich getragen werden, ist dabei nur ein Indiz.

5. Für den Einwand der Zweckverfehlung trägt die Behörde die Darlegungs- und die Beweislast. Bei notwendigen Ermittlungen trifft den Antragsteller die (allgemeine) Mitwirkungsobliegenheit.

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 5. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über den Anspruch der 2007 geborenen und 2010 verstorbenen Klägerin (im Folgenden: Antragstellerin) auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).

Die Klägerin ist die Mutter der Antragstellerin und führt als deren Rechtsnachfolgerin (im Folgenden: Klägerin) den Rechtsstreit fort.

Am 01.02.2008 stellte die Klägerin für die Antragstellerin beim Beklagten Antrag auf Gewährung von Blindengeld. Im Rahmen der Sachverhaltsermittlung holte der Beklagte einen Befundbericht der Kinderklinik M. vom 20.02.2008, in der sich die Klägerin seit ihrem Geburtstag in stationärer Behandlung befand, ein. Darin wurden die Diagnosen schwere perinatale Asphyxie, Zustand nach Reanimation in der Perinatalperiode, schwere geistige und körperliche Behinderung nach peripartaler Asphyxie, Epilepsie mit BNS-Anfällen, rezidivierende respiratorische Insuffizienz und fragliche Sehbehinderung gestellt. In dem am 25.08.2008 für den Beklagten erstellten Gutachten der Universitätsaugenklinik W-Stadt wurde festgehalten, dass die dokumentierte Sehleistung nicht durch objektivierbare Befunde im optischen System zu begründen sei, sondern dass Verwertungsstörungen im Sinne einer zerebralen Blindheit vorliegen würden. Im ebenfalls vom Beklagten eingeholten Gutachten des Arztes für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Neuropädiatrie des Frühdiagnosenzentrums W-Stadt Prof. Dr. S. vom 08.10.2008 kam dieser zu dem Ergebnis, dass bei der Antragstellerin ein Zustand nach schwerster intra- und postnataler Hypoxie bestehe. Bei der Antragstellerin sei eine schwerste Schädigung der Großhirnstrukturen im Sinne einer Panenzephalopathie bei intakter Struktur und Funktion von Auge, Netzhaut und Nervus opticus gegeben. Aus diesen Gründen sei die Antragstellerin nicht blind im Sinne des BayBlindG. Eine Hörscreeninguntersuchung (vom 15.07.2008) habe den Verdacht auf eine höhergradige Hörstörung ergeben.

Mit Bescheid vom 31.10.2008 lehnte der Beklagte daraufhin die Gewährung von Blindengeld ab, da Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen habe werden können. Eine stärkere Beeinträchtigung der visuellen Wahrnehmung als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten lasse sich bei der Antragstellerin nicht feststellen.

Hiergegen legte die Klägerin am 24.11.2008 Widerspruch ein, der damit begründet wurde, dass die Antragstellerin seit ihrer Geburt zerebral schwer geschädigt, dass trotz dieser Hirnschädigung jedoch nicht jede kognitive Leistung vollständig ausgeschlossen sei. Nach der Rechtsprechung des BSG stünden umfangreiche zerebrale Störungen einer Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht entgegen. Zudem wurde im Widerspruchsverfahren die Einholung eines Sachverständigengutachtens durch Prof. Dr. St., Universitätsklinik W-Stadt, beantragt. Weitere Ermittlungen fanden jedoch nicht mehr statt. Nach einer ausführlichen versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13.05.2009 wies der Beklagte sodann mit Widerspruchsbescheid vom 22.05.2009 den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen der Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht nachgewiesen ...

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