Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung. Prüfverfahren des Medizinischen Dienstes. Übergangsvereinbarung vom 10.12.2019. vorübergehende Aussetzung des Aufrechnungsverbots nach § 109 Abs 6 S 1 SGB 5 von Ermächtigungsgrundlage gedeckt. sozialgerichtliches Verfahren. Zurückverweisung. Anwendbarkeit von § 159 Abs 1 Nr 1 SGG
Leitsatz (amtlich)
1. § 159 Abs 1 Nr 1 SGG ist entsprechend anwendbar, wenn das SG zwar in der Sache selbst, aber aus Gründen, die das LSG nicht für zutreffend hält (hier: die Möglichkeit der Aufrechnung gegen eine Krankenhausvergütung), die Klage abgewiesen und zu den eigentlichen Sachfragen (hier: primäre Fehlbelegung) nicht Stellung genommen hat, weil es in einer rechtlichen Vorfrage die Weiche falsch gestellt hat.
2. Krankenkassen waren in der Zeit vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2021 nach § 109 Abs 6 S 3 iVm Art 1 S 2 und 3 der Übergangsvereinbarung zur Prüfverfahrensvereinbarung vom 10.12.2019 iVm § 10 Prüfverfahrensvereinbarung (juris: PrüfvVbg) zur Aufrechnung berechtigt.
3. Der Anwendbarkeit der Übergangsvereinbarung zur Prüfverfahrensvereinbarung vom 10.12.2019 steht es nicht entgegen, wenn die Krankenkasse mit einer Forderung aufgerechnet hat, die selbst nicht Gegenstand eines Prüfverfahrens des Medizinischen Dienstes gewesen ist.
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 09.11.2022 aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht Nürnberg zurückverwiesen.
II. Das Sozialgericht hat auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung.
Die Klägerin ist Trägerin eines zur Behandlung gesetzlich Versicherter zugelassenen Krankenhauses (§ 108 Nr. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V -), in dem vom 04.05.2019 bis zum 06.05.2019 die bei der Beklagten Versicherte R (Versicherte) behandelt wurde.
Für den stationären Aufenthalt berechnete die Klägerin der Beklagten unter Zugrundelegung insbesondere der DRG I68D (Nicht operativ behandelte Erkrankungen und Verletzungen im Wirbelsäulenbereich, mehr als ein Belegungstag, oder andere Femurfraktur, außer bei Diszitis oder infektiöser Spondylopathie, ohne Kreuzbeinfraktur) insgesamt 1.943,47 € (Rechnung vom 09.05.2019).
Die Beklagte beglich die Rechnung zunächst, rechnete mit Schreiben vom 30.10.2020 jedoch nach Einschaltung des Medizinischen Dienstes (MD) (Gutachten vom 17.07.2020) den gesamten Rechnungsbetrag mit einer unstreitigen Forderung der Klägerin aus der Behandlung von C auf, da eine ambulante Behandlung ausreichend und deshalb die stationäre Behandlung nicht notwendig gewesen sei (sog primäre Fehlbelegung).
Trotz des deswegen erhobenen Widerspruchs der Klägerin mit Schreiben vom 10.11.2020 blieb die Beklagte bei ihrer Entscheidung (Schreiben vom 13.05.2022).
Am 07.10.2021 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und zur Begründung vorgetragen, die Aufrechnung sei unwirksam, da ein Verstoß gegen§ 109 Abs. 6 SGB V vorliege. Hilfsweise hat sie darauf hingewiesen, die vollstationäre Behandlungsbedürftigkeit der Versicherten habe sich zum Zeitpunkt der Aufnahme zwingend gezeigt, nachdem alle ambulanten Behandlungsversuche innerhalb eines Monats zuvor gescheitert gewesen wären. Sofern das Gericht der Klage nicht aus den Erwägungen zur Unwirksamkeit der Aufrechnung stattzugeben vermöge, werde die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens unumgänglich sein.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, bei der Versicherten sei aus Sicht der Klägerin eine Behandlung mittels Facetteninfiltrationen notwendig gewesen. Grundsätzlich seien die Facetteninfiltrationen einer ambulanten Durchführung zugänglich. Weshalb die Facetteninfiltrationen - bei der lediglich neun Autominuten entfernt wohnenden Versicherten - zwingend vollstationär habe durchgeführt werden müssen, werde nicht ausgeführt. Die Aufrechnung sei nach§ 109 Abs. 6 Satz 3 SGB V in Verbindung mit § 10 Prüfverfahrensvereinbarung 2016 (PrüfvV 2016) wirksam.
Die von den Beteiligten vorgeschlagenen Vergleiche wurden von der Gegenpartei jeweils ausgeschlagen.
Das SG hat der Klage mit Urteil vom 09.11.2022 vollumfänglich stattgegeben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 1.943,47 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von vier Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 01.11.2020 zu zahlen. Der Aufrechnung stehe das mit Wirkung zum 01.01.2020 normierte gesetzliche Aufrechnungsverbot in§ 109 Abs. 6 Satz 1 SGB V entgegen. Die Beklagte könne sich auch nicht auf eine zulässige vertragliche Ausnahme berufen (§ 109 Abs. 6 Satz 3 SGB V ). Zwar hätten der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) in der am 10.12.2019 beschlossenen Übergangsvereinbarung zur Prüfverfahrensvereinbarung (PrüfvV) die Weitergeltung der Regelungen zur ...