Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Weiterverordnung. Ritalin. Volljährigkeitsalter. Beyond-Label-Use
Orientierungssatz
Zu den Voraussetzungen bzgl der weiteren Verordnung von Methylphenidat/Ritalin über das Erreichen des Volljährigkeitsalters hinaus (Beyond-Label-Use).
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25. Januar 2006 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Weiterversorgung mit dem Medikament Ritalin (Wirkstoff: Methylphenidat) über das Volljährigkeitsalter hinaus.
1. Die 1985 geborene Klägerin ist an einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) ohne Hyperaktivität erkrankt. Bei diesem Krankheitsbild zeigen sich häufig Unaufmerksamkeit und Träumereien, Entwicklungsstörungen, insbesondere der Sprache, des Lesens, der Rechtschreibung sowie damit einhergehende Störungen des Sozialverhaltens und emotionale Störungen. Diese Störungen treten in starker Ausprägung auf, häufig zeigen sich deutliche Missverhältnisse zu Entwicklungsalter und Intelligenz. Das ADS ist weder medikamenteninduziert, noch besteht es in organischen Primärstörungen, Psychosen, Angst- oder depressiven Störungen oder gar in einer Borderline-Erkrankung. Ursachen des ADS sind ist nach den gängigen drei Hypothesen zur Pathophysiologie Defizite des neurologischen Systemes. Auszugehen ist davon, dass die Neurotransmittersysteme in den Synapsen, also der Signaltransport in den Schaltstellen der Nervenvernetzung, gestört sind, weil die Stoffe Dopamin, Noradrenalin sowie Serotonin die ihnen zukommende Aufgaben nicht ausführen. Dementsprechend wird die Erkrankung, welche mit und ohne Hyperaktivität (ADHS/ADS) auftritt, mit Stimulantien behandelt.
In der Kinderpoliklinik der Universität E. wurde die Klägerin Ende 1998 wegen Migräne mit Gesichtsfeldausfall stationär behandelt sowie vom 03.03. bis 10.03.1999 wegen einer Medikamentenintoxikation in suizidaler Absicht. Im Frühjahr 2000 diagnostizierte Dr. S. das ADS und die Beklagte übernahm seither die Behandlung mit dem Medikament Ritalin (Wirkstoff: Methylphenidat). In der Folge ergab sich ein sehr guter Krankheitsverlauf mit deutlicher Verbesserung des Selbstwertgefühls und eine Verringerung der Migräneanfälle.
2. Nach Erreichen der Volljährigkeit beendete Dr. S., die im Schwerpunkt Kinder behandelt, die ärztliche Betreuung und die Klägerin wechselte zum Psychiater/Psychotherapeuten Dr. S. . Dieser beantragte unter dem 01.04.2004, die Kosten der medikamentösen Versorgung mit Methylphenidat für einen weiteren Behandlungszeitraum von ca. zwei Jahren zu übernehmen.
Methylphenidat ist vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zur Behandlung von ADS nur im Kindesalter zugelassen, nicht jedoch im Erwachsenenalter. In der Roten Liste ist als Anwendung das ADS/ADHS eingetragen bei Kindern ab sechs Jahren und zur Weiterführung der Therapie bei Jugendlichen, nicht jedoch bei Erwachsenen. Dr. S. führte in seinem Antrag insoweit aus, bei der Klägerin liege seit der Kindheit und noch immer ein ADS vor; Therapieziel sei es, die Stabilisierung noch weiter fortzuführen, um der Klägerin ein eigenverantwortlich selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Dr. S. bezog sich dabei auf eine Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zur Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter (Der Nervenarzt 2003, 939), wonach randomisierte und/oder placebokontrollierte doppelblinde Studien mit Wirksamkeitsnachweis die Stimulantienbehandlung mit Methylphenidat bei Erwachsenen als Therapie erster Wahl ergeben hätten. Nach dieser Leitlinie existierten jedoch keine publizierten Daten zu Effekten und Nebenwirkungen einer Langzeittherapie. Auf Anfrage der Beklagten erklärte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Bayern in einer Stellungnahme vom 23.04.2004, die Voraussetzungen für den Gebrauch des Medikamentes Methylphenidat über den Zulassungsbereich hinaus (off-label-use) seien nicht gegeben, weil bei der Klägerin zwar Störungen das Leistungsvermögen beeinträchtigten, jedoch eine schwerwiegende, lebensbedrohliche Erkrankung nicht vorliege. Zudem kämen zur Behandlung des ADS auch andere Medikamente oder Verhaltens- sowie Soziotherapie in Betracht.
Mit Bescheid vom 26.05.2004/Widerspruchsbescheid vom 02.09.2004 lehnte die Beklagte die beantragte Kostenübernahme mit der Begründung ab, zur Wirksamkeit von Methylphenidat bei ADS im Erwachsenenalter bestehe keine ausreichend gesicherte Datenlage. Die Leitlinien des DPNG zeigten, dass keine Langzeitstudien zur Wirksamkeit von Methylphenidat bei Erwachsenen vorlägen. Zudem habe das Landessozialgericht (LSG) Berlin sich in einem Beschluss vom 30.01.2004 entsprechend geäußert.
3. Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg hat die Klägerin Kostenerstattung in Höhe von EUR 178,73 sowie Feststellung beantragt, dass sie Anspruch auf Arzneimittel...