Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung: Sozialmedizinische Beurteilung bei Diagnose einer Fibromyalgie
Leitsatz (amtlich)
Zu den Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erwerbsminderungsrente.
Orientierungssatz
Entscheidend für die sozialmedizinische Beurteilung sind nicht Diagnosen und die genaue Verschlüsselung nach dem ICD 10, sondern allein die aus Gesundheitsstörungen resultierenden Funktionseinschränkungen. Das chronische Schmerzsyndrom bzw. die somatoforme Schmerzstörung bekommt durch die Bezeichnung als Fibromyalgiesyndrom nur ein neues Etikett. Eine Fibromyalgie ist keineswegs per se eine Berentungsdiagnose.
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 10.10.2012 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung anstelle der bereits gewährten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Die 1948 im heutigen Slowenien geborene Klägerin war nach Abschluss einer Fachschule für Tourismus kurzfristig als Reiseverkehrskauffrau in Slowenien beschäftigt. Nach ihrem Zuzug in das Bundesgebiet im Jahr 1978 war sie ab 1983 als Sekretärin, Büroangestellte und zuletzt ab August 1988 bis September 1995 als Sachbearbeiterin in einer Außenhandelsgesellschaft versicherungspflichtig beschäftigt. Zuletzt war sie 1995 bis 1998 als freiberufliche Dolmetscherin tätig. Seit 1. Juni 2013 bezieht die Klägerin Regelaltersrente.
Die Klägerin begehrte erstmals mit Antrag vom 7. September 1998 Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit von der Beklagten unter Hinweis auf ein klimakterisches Syndrom, einen psychophysischen Erschöpfungszustand, Depressionen, ein chronisches Schulter-Arm-Syndrom, ein HWS-BWS-Syndrom, Migräne und einen Reizmagen.
Die Beklagte holte ein nervenärztliches Gutachten von Dr. K. vom 15. Oktober 1999 ein, der eine neurotische Depression im Klimakterium, eine Migräne accompagnee, ein psychosomatisches Wirbelsäulensyndrom bei Ausschluss eines Fibromyalgiesyndroms feststellte und der Klägerin noch ein halb- bis untervollschichtiges Leistungsvermögen für Tätigkeiten als Sachbearbeiterin im Außenhandel und ein vollschichtiges Leistungsvermögen für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bescheinigte. Nach Ablehnung des Antrags mit Bescheid vom 11. November 1999 holte die Beklagte im anschließenden Widerspruchsverfahren ein Gutachten des Orthopäden Dr. B. vom 12. Februar 2000 ein, der bei der Klägerin eine Lumboischialgie rechts, ein HWS-Schulter-Arm-Syndrom rechts, eine initiale Coxarthrose beidseits, eine Ansatztendinose des rechten Trochanter major und einen Senk-Spreizfuß beidseits fand. Er hielt die Klägerin sowohl als Sachbearbeiterin als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch für vollschichtig leistungsfähig. Der Widerspruch wurde daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 14. Juni 2000 zurückgewiesen.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht München (SG) mit dem Az. S 16 RA 785/00 holte das SG ein chirurgisch-orthopädisches Gutachten von Dr. L. vom 21. Februar 2001 und ein psychiatrisches Gutachten von Dr. M. vom 10. April 2001 ein. Dr. L. diagnostizierte bei der Klägerin ein leichtgradigstes Halswirbelsäulensyndrom bei derzeit freier Funktion, ein leichtgradiges Lendenwirbelsäulensyndrom mit sich daraus ergebender mäßiggradiger Funktionsminderung ohne Zeichen eines peripher-neurogenen Defekts, eine Periarthropathie rechte Schulter im Entfall eines schmerzhaften Bogens, Senk-Spreizfüße beidseits bei Hallux valgus-Deformität bei Trochantertendinose beider großer Rollhügel ohne gravierende Geh- und Stehminderung. Die Klägerin könne noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sowie als Sachbearbeiterin 6 Stunden leichte, kurzfristig mittelschwere Arbeiten verrichten. Dr. M. stellte bei der Klägerin eine somatoforme Schmerzstörung bei langjährig bestehender chronischer Dysthymie, derzeit mittelgradig ausgeprägt, und einen Alkoholabusus fest. Die Klägerin sei als Sachbearbeiterin im Bereich Import/Export sowie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt halbschichtig bzw. maximal 4 Stunden täglich belastbar.
Mit Urteil vom 9. August 2001 verurteilte das SG daraufhin bei Klageabweisung im Übrigen die Beklagte, der Klägerin ab 1. April 2000 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit für maximal 3 Jahre zu gewähren. In Ausführung dieses Urteils gewährte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 3. Januar 2002 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. April 2000 bis 31. März 2003.
Auf den Weitergewährungsantrag der Klägerin vom 28. November 2002 hin beauftragte die Beklagte Dr. H. mit der Erstellung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens (Gutachten vom 16. März 2003). Der Sachverständige stellte bei der Klägerin eine somatoforme autonome Funktionsstörung (muskuläre Verspannung, Magen), eine somatoforme Schmerzstörung, eine Persönlichkeit mit histrionischen Zügen, einen migräneartigen Ko...