Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Feststellung des Grades der Behinderung. Voraussetzungen des Merkzeichens aG für eine außergewöhnliche Gehbehinderung

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Maßgaben der (Gesamt-) GdB-Bildung und den Voraussetzungen des Merkzeichens aG

 

Orientierungssatz

1. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt. Dann ist im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen nebeneinander.

2. Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung - dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind.

 

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 04.07.2017 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob der Klägerin ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 80 sowie das Merkzeichen "aG" zustehen.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 04.07.2007 erkannte der Beklagte der 1954 geborenen Klägerin einen GdB von 80 zu. Zudem stellte der Beklagte fest, dass die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "B" und "G" erfüllt. Seiner Entscheidung legte der Beklagte folgende Gesundheitsstörungen zu Grunde: 1. Spastische Hemiparese links infolge perinataler Enzephalopathie (bewertet mit einem Einzel-GdB von 50), 2. Halswirbelsäulensyndrom mit Schulter-Arm-Syndrom, Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrom mit rezidivierenden Lumboischialgien, Großzehenheberparese nach Bandscheibenoperation L4/5 rechts, L3/4 links, Osteoporose, Coccygodynie (bewertet mit einem Einzel-GdB von 30), 3. Sehminderung und Gesichtsfeldeinschränkung beidseits (bewertet mit einem Einzel-GdB von 30), 4. Verstimmungszustände, Somatisierung bei psychovegetativem Syndrom mit phobischen Zügen, Schmerzsyndrom (bewertet mit einem Einzel-GdB von 20), 5. Funktions- und Belastungseinschränkung der Sprunggelenke und Knie, Fußdeformation links größer als rechts (bewertet mit einem Einzel-GdB von 20), 6. Koronare Herzkrankheit, Koronardilatation mit Stenteinlage (bewertet mit einem Einzel-GdB von 10).

Einen nachfolgenden Antrag der Klägerin auf Erhöhung des GdB und Zuerkennung des Merkzeichens "aG" lehnte der Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 25.02.2010 ab.

Am 05.05.2011 stellte die Klägerin erneut Antrag auf Erhöhung des GdB sowie auf Zuerkennung der Merkzeichen "aG" und "RF". Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 01.09.2011 ab. Das anschließend beim Sozialgericht Würzburg (SG) durchgeführte Klageverfahren (Az. S 16 SB 133/12) endete ebenso wie das Berufungsverfahren beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) ohne Erfolg (Urteil des LSG vom 16.09.2015 - L 15 SB 43/15).

Am 08.06.2016 stellte die Klägerin erneut Antrag auf Erhöhung des GdB auf wenigstens 90 und auf Feststellung der Merkzeichen "aG" und "RF". Nach Beiziehung von Befunden der behandelnden Ärzte und Einholung zweier ärztlicher Stellungnahmen nach Aktenlage lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 10.10.2016 (Widerspruchsbescheid vom 07.12.2016) ab.

Hiergegen hat die Klägerin Klage zum SG erhoben. Das SG hat einen Befundbericht des behandelnden Hausarztes der Klägerin beigezogen. Sodann hat es Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Chirurgen Dr. S. (im Folgenden: S) vom 22.03.2017. S ist nach ambulanter Untersuchung der Klägerin zu dem Ergebnis gekommen, dass folgende Gesundheitsstörungen vorliegen: 1. Halbseitenteillähmung links, Polyneuropathie, seelische Störungen, chronisches Schmerzsyndrom, funktionelle Organbeschwerden (bewertet mit einem Einzel-GdB von 50), 2. Sehminderung beidseits, unregelmäßige Gesichtsfeldausfälle beidseits (bewertet mit einem Einzel-GdB von 50), 3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen (bewertet mit einem Einzel-GdB von 30), 4. Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Gebrauchseinschränkung beider Füße (bewertet mit einem Einzel-GdB von 20), 5. Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (bewertet mit einem Einzel-GdB von 20), 6. hyperreagibles Bronchialsystem (bewertet mit einem Einzel-GdB von 10), 7. Durch...

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