Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Aufhebung eines Bewilligungsbescheids mit Wirkung für die Zukunft. Bekanntgabe. Aufgabe zur Post. Vermerk des Sachbearbeiters. Grobe Fahrlässigkeit. Gewöhnlicher Aufenthalt. Ortsabwesenheit. Nahbereich. Vorbehalt der Vorläufigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Enthält ein Aufhebungsbescheid eine Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit und für die Zukunft, müssen für den die Vergangenheit betreffenden Zeitraum die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X vorliegen. Liegen diese nicht vor, ist für den die Zukunft betreffenden Teil des Aufhebungsbescheides zu prüfen, ob dieser die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X erfüllt.
2. Abgrenzungskriterium zwischen Zukunft und Vergangenheit iSv § 48 SGB X ist die Bekanntgabe des Aufhebungsbescheides. Am Tag nach der Bekanntgabe beginnt die Zukunft iSv § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X.
3. Die 3-Tages-Fiktion des § 37 Abs 2 SGB X in Bezug auf die Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsaktes, der durch Post übermittelt wird, tritt nicht ein, wenn der Postauslaufvermerk lediglich von einem Sachbearbeiter angebracht wird, ohne dass dieser den Verwaltungsakt selbst zur Post gibt oder in einen Briefkasten einwirft.
4. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit denen ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln den Jobcenter von ihrem aktuellen, außerhalb des Wohnsitz liegenden Aufenthaltsortes regelmäßig nicht innerhalb von 75 Minuten erreichen können, halten sich außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereiches iSv § 7 Abs 4a SGB II auf. Kehrt der Leistungsberechtigte nur an ganz vereinzelten Tagen an seinen Wohnsitz zurück und sind diese dem Jobcenter nicht bekannt und im Einzelnen auch nicht konkret aufklärbar, besteht der Leistungsausschluss durchgehend.
5. Eine auf § 328 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB III iVm § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1a SGB II gestützte vorläufige Aufhebung eines Aufhebungsbescheides nach einer gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen den Aufhebungsbescheid ist rechtswidrig. Der Vorläufigkeitsvorbehalt kann isoliert aufgehoben werden, so dass eine endgültige Aufhebung bestehen bleibt.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 4a, §§ 36, 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1a; SGB III § 140 Abs. 4, § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 330 Abs. 3; EAO § 2 S. 1 Nr. 3; SGB X § 37 Abs. 2, § 48 Abs. 1; SGG § 96
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 24.06.2010 und der Bescheid des Beklagten vom 06.11.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.12.2008 in der Fassung von Ziffer 1. des Bescheides vom 02.03.2009 insoweit aufgehoben, als die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 01.11.2008 bis 13.11.2008 aufgehoben und der Bescheid vom 06.11.2008 ab 28.01.2009 nur vorläufig aufgehoben worden ist. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger 3/4 seiner außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab 01.11.2008.
Der Kläger bezieht vom Beklagten seit Juli 2007 Alg II. Zuletzt waren ihm mit Bescheid vom 17.06.2008 für den Zeitraum 01.07.2008 bis 30.06.2009 monatlich 279,55 € bewilligt worden. Mit Bescheiden vom 10.10.2008 und 16.10.2008 senkte der Beklagte die Leistungsbewilligung wegen festgestellter Sanktionen für den Zeitraum 01.11.2008 bis 30.11.2008 auf monatlich 244,55 € und für den Zeitraum 01.12.2008 bis 28.02.2009 auf monatlich 209,55 € ab.
Mit Emails vom 27.10.2008 und 04.11.2008 teilte der Kläger dem Beklagten mit, er habe sich der Waldbesetzung in K. angeschlossen. Sein gewöhnlicher Aufenthalt befinde sich weiter in A-Stadt. Die Vermittlungsbemühungen sollten "eingefroren" und die Grundsicherung fortgezahlt werden. Der Beklagte hob daraufhin mit Bescheid vom 06.11.2008 den Bewilligungsbescheid vom 17.06.2008 für die Zeit ab dem 01.11.2008 nach § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf, weil sich der Kläger nicht mehr im Zuständigkeitsbereich des Beklagten aufhalte. Den Widerspruch des Klägers vom 13.11.2008 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.12.2008 zurück. Ein vom Kläger eingeleitetes Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (Az: S 13 AS 66/09 ER) beim Sozialgericht Würzburg (SG) endete für die Zeit ab dem 28.01.2009 mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen den Aufhebungsbescheid vom 06.11.2008 erhobenen Klage. Der Beklagte sei mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung verpflichtet, die aus dem bisher maßgeblichen Leistungsbescheid vom 17.06.2008 bewilligten Leistungen auszuzahlen. Seine dagegen erhobene Beschwerde vor dem Bayerischen Landessozialgericht (Az: L 11 AS 165/09 B ER) endete mit der Rücknahme der Beschwerde durch den Beklagten am 29.06.2009. Er hob daraufhin mit Bescheid vom 02.03.2009 den Aufhebungsbescheid vom 06.11.2008 vorläufi...