Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung: Anerkennung einer Berufskrankheit. Voraussetzung der Anerkennung einer Wie-Berufkrankheit. Anforderungen an den zeitlichen Zusammenhang zwischen Berufsausübung und Erkrankung
Leitsatz (amtlich)
Zur Ablehnung einer Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV bzw. einer Wie-Berufskrankheit bei einer zeitlichen Lücke von mindestens 17 Jahren zwischen Beendigung der Tätigkeit und Nachweis der ersten Erkrankungssymptome.
Orientierungssatz
Liegt zwischen einer Tätigkeit mit schädlichen Gesundheitseinwirkungen aus Lösungsmitteln und dem erstmaligen Auftreten einer Erkrankung des Nervensystems (hier Polyneuropathie bzw. Enzephalopathie) ein mehrjähriger Zeitraum (hier: 17 Jahre), so scheidet die Annahme einer Kausalität zwischen Schadstoffeinwirkung und Krankheit im Regelfall aus. Die Annahme einer Berufskrankheit kommt in diesem Fall deshalb wegen der fehlenden Einwirkungskausalität nicht in Betracht.
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 16. März 2010 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob beim Kläger eine Berufskrankheit nach der Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) bzw. eine Wie-Berufskrankheit festzustellen ist.
Der 1941 geborene Kläger war vom 1. August 1955 bis 2. August 1963 als Auszubildender und Maschinenschlosser bei der Firma S. in A-Stadt, anschließend vom 19. August 1963 bis 30. Juni 1965 und vom 1. Januar 1967 bis 30. September 1987 als kaufmännischer Angestellter - unterbrochen durch die Wehrdienstzeit vom 1. Juli 1965 bis 31. Dezember 1966 - und ab 1. Oktober 1987 als Lagerist tätig. Am 8. Januar 1996 zeigte der Hautarzt Dr. K. M. gegenüber der damaligen Berufsgenossenschaft der Gas- und Wasserwerke (BGFW) eine toxische Enzephalopathie mit Perfusionsstörung des Gehirns als Berufskrankheit an, verursacht durch den Umgang mit Lösungsmitteln und Schmierstoffen. Der Kläger gab Beschwerden seit 1986 an, die er auf seinen beruflich bedingten Kontakt mit Lösungsmitteln, Nitro-Waschbenzin, Nitrofarbe, Schmier- und Kühlmittel, Elektroschweißdämpfe und Dieselabgase zurückführte. Inzwischen bestehe ein ’multiple chemical sensitivity Symptom‚ (MCS) mit Perfusionsstörungen des Gehirns und einem Mangel an IgG bei Reduzierung der Subklassen IgG 1 und IgG 4, diagnostiziert durch Dr. M. (Befundbericht vom 29. Dezember 1995). Als Beschäftigungszeiten, während der er einer gesundheitlichen Schädigung ausgesetzt war, die zu der jetzigen Erkrankung geführt haben könnte, gab er in einem Fragebogen am 22. Januar 1997 die Zeit vom 1. August 1955 bis 2. August 1963 als Maschinenschlosser bei der Fa. S. GmbH an. Die Berufsgenossenschaft gab den Vorgang mit Schreiben vom 29. Januar 1997 an die Beklagte ab.
Die Beklagte zog verschiedene ärztliche Berichte bei, so den Entlassungsbericht des Krankenhauses A-Stadt über einen stationären Aufenthalt vom 9. November bis 4. Dezember 1992. Das Klinikum der Universität U. stellte am 8. August 1994 hinsichtlich einer Behandlung vom 14. Juli bis 2. August 1994 als Diagnose den Verdacht auf eine habituelle frühzeitige Alterung der Haut nach häufiger Sonnenexposition. Nach dem Bericht des Röntgenologen und Nuklearmediziners Dr. L. bestand eine deutliche Perfusionsstörung in beiden Temporalregionen mit linksseitiger Betonung sowie in der rechten Occiptialregion. Der Internist Dr. S. berichtete am 24. Mai 1998 u.a. von einer Amalgamintoxikation, einer ausgeprägten psychophysischen Erschöpfung sowie einer deutlichen Perfusionsstörung.
Der MDK in Bayern bescheinigte in einem Gutachten zur Arbeitsunfähigkeit vom 19. Dezember 1996 u.a. einen ausgeprägten psychovegetativen Erschöpfungszustand bei Verdacht auf neurotische Fixierung (DD: Perfusionsstörung des Gehirns). Ferner liegt ein Leistungsauszug der Krankenkasse (DAK) vor.
Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten bescheinigte am 19. November 1997 für die Tätigkeit als Maschinenschlosser von August 1955 bis August 1963 je nach Art der ausgeführten Tätigkeit einen Umgang mit Reinigungsmitteln (Waschbenzin, Nitroverdünnung und "TRI") sowie mit lösemittelhaltigen Lacken. Der durchschnittliche Zeitbedarf sei auf 30 Minuten/Tag zu veranschlagen. Während eines halben Jahres im Getriebebau während der Ausbildung habe bei Reinigungsarbeiten (durchschnittlich drei bis maximal fünf Stunden pro Tag) eine erhöhte Exposition gegenüber Lösemitteln aus Reinigern bestanden. Für die Tätigkeit als Lagerist bei den Stadtwerken wurde eine Exposition gegenüber lösungsmittelhaltigen Stoffen, Nitrofarben etc. verneint (Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes der Berufsgenossenschaft der Gas-, Fernwärme- und Wasserwirtschaft vom 7. Mai 1997 sowie Stellungnahme des Techn. Aufsichtsbeamten vom 7. Mai 1997 für die Tätigkeit als Lagerist seit 1. Oktober 1987). In dieser Zeit sei keine Verarbeitung von lösungsmitte...