Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht: Opferentschädigung bei einem ärztlichen Eingriff

 

Leitsatz (amtlich)

1. Selbst wenn die Operation als vorsätzliche Körperverletzung einen strafbaren ärztlichen Eingriff darstellen würde, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Gewalttat im Sinn des OEG vorliegt, wenn die Operation zum Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv - also aus Sicht eines verständigen Dritten - jedenfalls auch dem Wohl der Klägerin im Sinn der Rechtsprechung des BSG gedient hat.

2. Für die Frage der feindseligen Willensrichtung bei der Vornahme eines ärztlichen Eingriffs ist auf die herrschende medizinische Meinung zum Zeitpunkt der Durchführung des ärztlichen Eingriffs abzustellen, nicht auf etwaige spätere Erkenntnisse und Änderungen des medizinischen Meinungsstands.

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16. Juli 2014 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Klägerin Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) in Verbindung mit den Vorschriften des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) zu gewähren ist.

Die Klägerin ist 1961 geboren. Eine Chromosomenanalyse (im Jahr 1979, bestätigt im Jahr 2009) hat bei ihr den Karyotyp 46, XY ergeben, was dem männlichen Chromosomensatz entspricht. Seit der Geburt hat sie ein weibliches Erscheinungsbild entwickelt. Grund dafür ist eine testikuläre Feminisierung.

Nachdem die Klägerin bis zum Alter von 16 Jahren noch keine Regelblutung bekommen hatte, begab sie sich in gynäkologische Behandlung. Dort (Dr. W.) wurden eine fehlende Gebärmutter und eine nur teilweise angelegte Scheide (Vaginalaplasie) festgestellt.

Am 29.11.1979 erfolgte bei einer Operation in der Frauenklinik der Universität M-Stadt eine Scheidenplastik mit Mesh-Graft. Vor der Operation war die Klägerin nicht über ihren, den behandelnden Ärzten bekannten Chromosomensatz informiert worden. Der Operateur Prof. Dr. Z. begründete dies im Arztbrief vom 14.01.1980 an den behandelnden Gynäkologen Dr. W. wie folgt:

"Wir haben der Patienten allerdings über den Chromosomensatz keine Mitteilung gemacht, da wir glaubten, dass die Konstellation XY sie beunruhigen könnte."

Am 14.03.2011 machte die Klägerin beim Beklagten Leistungen nach dem OEG geltend. Sie gab an, dass sie im Alter von 16 Jahren von einem Gynäkologen (Dr. W.) untersucht worden sei, nachdem sie noch immer keine Regelblutung gehabt habe. Nach der Untersuchung sei ihr mitgeteilt worden, dass sie keine Gebärmutter habe und daher keine Kinder bekommen könne und ihre Scheide nur teilweise angelegt sei. Wenn der Wunsch bestehe, sexuelle Kontakte zu haben, müsste - so Dr. W. damals - operativ die nur teilweise angelegte Scheide geformt werden. Ansonsten sei nichts zu veranlassen. Eine weitere Diagnose sei nicht gestellt worden. 1979 sei sie in der Frauenklinik der Uni M-Stadt von Prof. Dr. Z. untersucht worden. Sie habe damals erwähnt, dass eine Cousine von ihr auch in M-Stadt genital operiert worden sei, vielleicht mit ähnlichem Befund. Prof. Dr. Z. habe sich darauf eingeschossen und im November 1979 sei sie operiert worden. Die Operation sei sehr schmerzvoll gewesen; ihr sei Haut am Gesäß abgezogen und entnommen worden und diese dann für die Anlage der Scheide verwendet worden. Die Wundversorgung am Gesäß sei äußerst schmerzvoll gewesen. Nach der Operation sei ein Katheter gelegt worden und sie habe zwei Wochen regungslos auf dem Rücken liegen müssen. Die sechs Wochen im Krankenhaus hätten sie und ihr Leben nachhaltig verändert. Sie sei immer mehr vereinsamt. Ihr eigener Körper sei ihr ab diesem Zeitpunkt fremd geworden. Im Laufe der Jahre sei sie immer niedergeschlagener geworden. Im Jahr 2009 habe sie von ihrem Gynäkologen aus ihrer Krankenakte die Diagnose der testikulären Feminisierung erfahren. Sie sei verblüfft gewesen und habe gemeint, dass diese Diagnose sicherlich falsch sei. Ihr sei immer wieder erklärt worden, dass sie Eierstöcke und Eileiter habe. Dies wäre bei einer testikulären Feminisierung ausgeschlossen. Anschließend sei ein humangenetisches Gutachten mit der eindeutigen Diagnose Karyotyp XY erstellt worden. Sie habe dann begonnen, weiter zu forschen, und ihre Operationsunterlagen aus dem Jahr 1979 bekommen. Bereits vor der Operation am 29.11.1979 sei laut OP-Bericht die XY-Konfiguration mit einer chromosomalen Untersuchung festgestellt worden. Mehrere Schreiben von damals würden beweisen, dass ihr diese Diagnose ausdrücklich nicht mitgeteilt worden sei, auch nicht ihren Eltern. Die damalige Einwilligung zur Operation wäre bei Kenntnis der ehrlichen und bekannten Diagnose so wohl nicht einfach erfolgt. Auf jeden Fall sei sie um große Bereiche ihres menschlichen Seins vorsätzlich betrogen worden. 30 Jahre habe sich niemand für einen etwaigen Hormonmangel mit all seinen Nebenwi...

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