Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. rechtswidriger tätlicher Angriff. ärztlicher Eingriff durch geschlechtszuweisende Operation. gegengeschlechtliche Hormontherapie. Verschweigen des Chromosomensatzes. übliche medizinische Praxis
Leitsatz (amtlich)
1. Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war es aus medizinischer Sicht üblich, bei Menschen mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung auf eine konkrete Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht hinzuwirken.
2. Zu diesem Zeitpunkt war sowohl in Deutschland als auch in Europa dabei vorherrschende ärztliche Meinung, dass der Chromosomensatz den Betroffenen nicht mitgeteilt wird.
Orientierungssatz
Ein ärztlicher Eingriff durch eine geschlechtszuweisende Operation stellt keinen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 OEG dar, wenn er zum Zeitpunkt seiner Vornahme objektiv - also aus Sicht eines verständigen Dritten - jedenfalls auch dem Wohl des intersexuellen Menschen dienen sollte.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2 Nr. 1, § 6 Abs. 3; StGB § 113 Abs. 1, §§ 121, 125, 223 Abs. 1, § 240; BÄO § 1 Abs. 1; SGB V § 52 Abs. 2; BVG § 1 Abs. 3; KOVVfG § 15 S. 1; SGG § 128 Abs. 1 S. 1
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 1. August 2012 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1974 geborene Klägerin war zunächst als Bäckerin tätig, absolvierte sodann eine Umschulung zur Bürokauffrau und hat zuletzt eine Ich-AG geführt; seit 01.07.2007 erhält sie Rente wegen voller Erwerbsminderung. Sie begehrt Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) in Verbindung mit den Vorschriften des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG).
Am 16.08.2008 teilte die Klägerin dem Beklagten im Rahmen ihres schwerbehindertenrechtlichen Widerspruchsverfahrens mit, dass sie um Prüfung bitte, "in wie weit versorgungsrechtliche Grundsätze nach § 5 SGB I in meinem besonderen Fall anzuwenden sind und welche versorgungsrechtlichen Ansprüche/Konsequenzen sich daraus hinsichtlich des OEG respektive des BVG für mich ergeben." Der Beklagte wertete dies als Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG und bestätigte dies mit Schreiben vom 13.11.2008, zugleich bat er um Ausfüllung und Rücksendung des beigefügten Antragformulars. Nachdem er die Klägerin hieran mit Schreiben vom 29.12.2008 erinnert hatte, teilte diese laut Telefonnotiz vom 15.01.2009 mit, "daß sie bisher keinen Antrag nach dem OEG stellen wollte, sondern sich nur über event. Ansprüche erkundigen möchte. Sie möchte erst das Klageverfahren in ihrer SGB IX Angelegenheit abwarten und wird dann ggf. die Antragsunterlagen übersenden."
Am 20.02.2010 ging sodann das von der Klägerin ausgefüllte und unterschriebene Antragsformular nebst medizinischen Unterlagen beim Beklagten ein. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, sie habe sich im Juni 1994 an die Gynäkologin Dr. W. gewandt, weil sie keine Menstruation bekommen habe. Dr. W. habe eine Hormonuntersuchung und eine Chromosomenanalyse veranlasst und ihr sodann mitgeteilt, dass eine primäre Sterilität bestehe, und sie zur weiteren Abklärung an die Universitätsklinik E-Stadt überwiesen. Dort habe man zunächst zur Inspektion ihrer inneren Genitalorgane eine Laparoskopie durchgeführt und sie nach weiteren Untersuchungen mit den Diagnosen Adreno-Genitalen-Syndrom (AGS) und Vergrößerung der Klitoris entlassen, wobei sie ab September 1994 weibliche Geschlechtshormone habe einnehmen sollen. In der Folgezeit sei sie jedoch schwer unter anderem an Knochenschwund erkrankt, weshalb im Januar 1995 das Hormonmedikament umgestellt worden sei. Infolge dringender ärztlicher Empfehlung, dass eine chirurgische Verkleinerung der krankhaft vergrößerten Klitoris erforderlich sei, habe sie sich am 06.07.1995 in der Universitätsklinik E-Stadt operieren lassen. Anschließend sei sie erneut schwer erkrankt, weshalb sie ab Februar 2005 zunächst arbeitsunfähig gewesen und seit Juni 2007 erwerbsunfähig sei. Zwischenzeitlich wisse sie, dass sie mit einer Störung der männlichen Geschlechtsentwicklung bei rein männlichem Chromosomensatz 46, XY geboren worden und keine der ihr mitgeteilten Diagnosen bzw. Indikationen zutreffend gewesen seien. Aus den beigefügten Patientenakten ergebe sich sogar, dass ihre behandelnden Ärzte sie vorsätzlich über ihre gesundheitliche und geschlechtliche Konstitution getäuscht hätten. Dadurch hätten sie erwirkt, verweiblichende medizinische Behandlungen durchführen zu können, worin ein vorsätzlicher rechtswidriger, tätlicher Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit im Sinne des § 223 Strafgesetzbuch (StGB) zu sehen sei. Mit Bescheid vom 26.07.2010 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des OEG sei nicht nachgewiesen. E...