Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. bayerisches Landesblindengeld. faktische Blindheit. zerebral schwer geschädigtes Kind. Beeinträchtigung des Sehvermögens. Erkennen-Können. spezifische Sehstörung. Entwicklungsunterschied zwischen Wahrnehmungsmodalitäten. objektivierbares Prüfverfahren. Griffith Entwicklungsskala
Leitsatz (amtlich)
Bei der Beurteilung der Wahrnehmungsmodalitäten zur Abgrenzung einer spezifischen Sehstörung gilt Folgendes:
1. Es ist auf das entsprechende Geschehen beim Betroffenen auf der Verhaltensebene abzustellen. Es kommt nicht auf durch technische Untersuchungen erkennbare Signale (zB auf durch Reizapplikation ausgelöste Reaktionen) an.
2. Relevant sind die bewussten Funktionen des jeweiligen Sinnes.
3. Bereits aus Rechtssicherheitsgründen ist ein objektivierbares Prüfverfahren erforderlich; bloße Verhaltensbeobachtungen, wie sie zB von Angehörigen im täglichen Umgang mit den Betroffenen vorgenommen werden, genügen nicht. Gängige entwicklungsdiagnostische Verfahren wie die sog Griffith Entwicklungsskalen (GES) sind geeignet.
4. Jedenfalls ein unter Anwendung der GES festgestellter Entwicklungsunterschied bezüglich der einzelnen Wahrnehmungsmodalitäten von zwei bis vier Monaten ist nicht signifikant, um eine spezifische Störung einzelner Sinnesmodalitäten zu beweisen.
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom
Dezember 2010 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayer. Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.
Der Kläger ist 2005 geboren. Die Mutter des Klägers stellte beim Beklagten am 27.10.2006 Antrag auf Blindengeld. Der Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht der behandelnden Augenärzte ein, in dem ausgeführt wurde, dass es sich an beiden Augen des Klägers um eine vollständige Erblindung infolge einer fortgeschrittenen Opticus-atrophie und eine generelle Schädigung höher gelegener Sehzentren, die in Zusammenhang mit einer schweren allgemeinen cerebralen Schädigung stünden, handle. Zudem wertete der Beklagte den radiologischen Bericht bezüglich einer am 28.07.2005 angefertigten Magnetresonanztomographie (MRT) aus, der ausgedehnte überwiegend subcorticale Substanzdefekte bihemisphäreriell im Sinne einer multizystischen Enzephalomalazie beschrieb. Der im Auftrag des Beklagten tätige Neurologe und Psychiater Dr. B. stellte daraufhin fest, dass eine isolierte oder eindeutig bevorzugte Schädigung einzelner Rindenareale, wie z.B. zentraler Sehstrukturen, nicht festzustellen sei. Auf cerebrale Blindheit könne aus dem MRT-Befund nicht geschlossen werden.
Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.07.2007 den Blindengeldantrag ab. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des BSG zur cerebralen Blindheit und auf die getroffenen o.g. Feststellungen lasse sich Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisen. Zusammenfassend könne bei schwerster Hirnschädigung des Klägers nicht davon ausgegangen werden, dass das Sehvermögen wesentlich stärker beeinträchtigt sei als die übrigen Sinnesmodalitäten.
Gegen den Ablehnungsbescheid erhob der Kläger am 29.08.2007 Widerspruch. Begründet wurde dieser damit, dass die Erblindung des Klägers auf eine Schädigung der Augen selbst zurückzuführen sei. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme wies die zuständige Ärztin des Beklagten darauf hin, dass die vorgelegten Befundberichte eine Schädigung der Augen nicht bestätigen würden. Ergänzend wies sie auf ein orthoptisches Beobachtungsprotokoll vom April 2006 hin, wonach der Kläger im abgedunkelten Raum kurze Fixation und ansatzweise Folgebewegungen aufgenommen habe. Auch diese Beobachtung belege, dass der Kläger nicht vollständig blind sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2007 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Das Vorliegen von Blindheit sei nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen.
Am 04.01.2008 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Diese ist damit begründet worden, dass die beim Kläger vorliegende Störung des Sehens bereits auf der Ebene des Erkennens liege, nicht erst auf der Ebene des Benennens. Die Schwere der Sehstörung sei so gravierend, dass sie einer Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleichzuachten sei.
Die am 19.03.2009 stattgefundene (erste) mündliche Verhandlung ist zur weiteren Sachverhaltsaufklärung vertagt worden. In der Folge hat die Klägerseite zahlreiche medizinische Unterlagen eingereicht. In einem Entwicklungsbericht der Blindeninstitutsstiftung Würzburg vom März 2009 ist u.a. hervorgehoben worden, dass der Kläger sehr spezielle Bedingungen und Angebote brauche, um seine basalen visuellen Fähigkeiten überhaupt einsetzen zu können. Im Attest der Kinderärztin D...