Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf bayerisches Landesblindengeld: Zweifel am Vorliegen von Blindheit bei cerebralen Schäden

 

Leitsatz (amtlich)

Wenn in den Fällen umfangreicher cerebraler Schäden bereits Zweifel am Vorliegen von Blindheit bestehen, kommt es auf das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht mehr an.

 

Tenor

I. Auf die Berufung werden das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch der Klägerin auf Blindengeld nach dem Bayer. Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.

Die 1998 geborene Klägerin ist mehrfach behindert. Wegen einer spastischen Tetraparese, Schluckstörungen sowie Sondenernährung nach mehrfacher Bauchoperation, geistiger Behinderung, Sprachentwicklungsstörung, Anfallsleiden sowie Harn- und Stuhlinkontinenz wurden für sie ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen B, G, aG, H und RF festgestellt; es besteht Pflegestufe III.

Am 30.06.2006 stellte die Klägerin beim Beklagten Antrag auf Blindengeld. In dem vom Augenarzt Dr. H. im Auftrag des Beklagten erstellten Gutachten wurde festgestellt, dass sich aus dem bisherigen Befund gesetzliche Blindheit nicht ableiten lasse. Es wurde eine VEP-Untersuchung empfohlen. Hiermit hat der Beklagte Prof. Dr. S., Universitätsklinikum B-Stadt, beauftragt. Dieser kam in seinem Gutachten vom 14.06.2007 u.a. zu dem Ergebnis, dass auf Licht eine kurze Aufmerksamkeitsreaktion, jedoch keine gezielte Fixation erfolgt sei; Folgebewegungen seien nicht auslösbar gewesen. Die Augenhintergrunduntersuchung habe bei beiden Augen folgenden Befund ergeben: Sehnervenkopf deutlich abgeblasst, scharf begrenzt, im Netzhautniveau. Die Gefäße seien im Kaliber und Reflexverhalten regelrecht. Die Stelle des schärfsten Sehens sei regelrecht. Die Netzhautperipherie zeige einen regelrechten Befund, keine Risse oder Rissvorstufen. Die Ableitung visuell evozierter Potentiale beidseits sei ohne Erfolg versucht worden, da keine ausreichende Fixaktion aufgenommen worden sei. Prof. Dr. S. stellte fest, dass die Untersuchungsmöglichkeiten bei der Klägerin eine genaue objektive Bestimmung der Sehschärfe nicht zuließen. Der Visus sei beidseits mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geringer als 0,1, da sich Folgebewegungen auf optokinetische Reize nicht hätten auslösen lassen. Das Aussehen des Sehnervenkopfes beidseits sowie die psychomotorische Reaktion der Klägerin sprächen für eine hochgradige Sehbehinderung. Allerdings könne ein Sehvermögen von nur 0,02 oder noch geringer nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Die ausgeprägte Opticusatrophie beidseits lege nahe, dass bei der Klägerin auch beidseits erhebliche Gesichtsfeldausfälle vorlägen. Dies sei aber - genauso wie die Ableitung der VEP - nicht objektivierbar.

Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 25.06.2007 den Antrag auf Blindengeld ab. Zur Begründung verwies er auf das Gutachten von Prof. Dr. S. und den geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast.

Hiergegen erhob die Klägerin über ihre Vertreterin am 13.07.2007 Widerspruch. Dieser wurde damit begründet, dass bei der Klägerin aufgrund der vorliegenden weiteren Behinderungen eine zweifelsfreie Feststellung der Blindheit schwer möglich sei. Jedoch würden die vorhandenen Unterlagen den Schluss zulassen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Blindengeld vorlägen. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 19.10.2007 stellte die Ärztin P. zusammenfassend fest, dass in den Wahrnehmungsbereichen Sehen, Hören und Fühlen rudimentäre Reaktionen vorhanden seien, eine cerebrale Verarbeitung des Sinneseindrücke jedoch nicht möglich sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.10.2007 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Trotz Einsatz aller diagnostischen Möglichkeiten sei es nicht gelungen, das genaue Ausmaß der offensichtlich vorliegenden Sehstörung festzustellen. Es lasse sich deshalb nicht der objektive Nachweis erbringen, dass Blindheit im Sinne des BayBlindG vorliege.

Hiergegen hat die Klägerin am 16.11.2007 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie über ihre Bevollmächtigte vorgetragen, dass sie nachweislich hirnorganisch so schwer geschädigt sei, dass sie auf optische Reize kaum reagiere. Soweit solche überhaupt aufgenommen würden, würden sie nicht verarbeitet; ein Sehen finde demnach überhaupt nicht statt. Nach der Rechtsprechung müsse in einem solchen Fall von Blindheit im Sinne des Blindengeldgesetzes ausgegangen werden. Ungeachtet der bisher durchgeführten Visusbestimmung sei daher wegen Blindheit die beantragte Leistung zu gewähren.

Im Folgenden hat das SG von der Blindeninstitutsstiftung B-Stadt Entwicklungsberichte (bezüglich der Klägerin) von den Schuljahren 2002/2003 bis 2006/2007 eingeholt. Eine mündliche Verhandlung am 18.09.2008 ist zum Zwecke der Durchführung weiterer Ermittlun...

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