Leitsatz (amtlich)
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für eine weite Auslegung im Rahmen der Prüfung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG kein Raum.
2. Voraussetzung für das Merkzeichen aG ist, dass der Behinderte praktisch ab den ersten Schritten die für das Merkzeichen aG erforderlichen ganz erheblichen Beeinträchtigungen der Gehfähigkeit hat und es sich dabei um einen dauerhaften Zustand handelt. Nicht ausreichend ist, wenn die massive Beeinträchtigung der Gehfähigkeit nur zeitweise vorliegt.
3. Eine Sturzgefahr und eine daraus resultierende Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustands können bei der Prüfung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG keine entscheidende Rolle spielen. Genauso wie der GdB stellen auch die Merkzeichen das Abbild einer bereits dauerhaft vorliegenden Gesundheitsstörung dar und können keinen Vorgriff auf eine zukünftige Entwicklung nehmen.
4. Zur Lösung einer breitenbedingten Parkplatznot eines Behinderten ist das Merkzeichen aG nicht gedacht.
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 3. Mai 2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch darauf hat, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) festgestellt werden.
Der Kläger ist 1996 geboren. Er leidet unter einem Dysmorphiesyndrom unklarer Genese mit Mikrozephalie, globaler Entwicklungsretardierung und einer nicht sicher zu klassifizierenden Epilepsie.
Mit Bescheid vom 03.02.2000 waren als Behinderung eine geistige Behinderung mit Entwicklungsrückstand und ein daraus resultierender Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und H festgestellt worden.
Am 20.03.2009 beantragte die Mutter des Klägers für diesen die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen aG und RF. Sie gab an, dass sich die Epilepsie und der mobile Zustand des Klägers verschlechtert hätten und es zu vielen Stürzen gekommen sei.
Der Beklagte holte einen Befundbericht der behandelnden Kinderärztin ein, die angab, dass der Kläger mehrmals täglich generalisierte Anfälle erleide. Das vom Kläger besuchte sonderpädagogische Förderzentrum berichtete dem Beklagten auf dessen Anforderung hin am 06.07.2009, dass der Kläger viele Fehlzeiten auf Grund der epileptischen Anfälle, der immer schwächer werdenden Motorik und der Verschlechterung des Allgemeinbefindens habe. Er könne auf unebenem Untergrund, über unbekannte Treppen und auf unbekannten, nicht ganz ebenen Wegen ohne fremde Hilfe nicht allein laufen und sei in den letzten Monaten mehrmals gestürzt. Für den Schulalltag werde die Schule demnächst einen Rollstuhl bekommen. Dem beigefügten Zwischenzeugnis vom 13.02.2009 ist zu entnehmen, dass der Kläger beim Klettern und bei Laufspielen gute Leistungen gezeigt habe; beim klassenübergreifenden Tanzangebot einer Tanztherapeutin habe sich der Kläger mit viel Energie und großer Freude beteiligt.
Mit Bescheid vom 25.08.2009 lehnte es der Beklagte nach Einbindung des versorgungsärztlichen Dienstes ab, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen aG und RF festzustellen.
Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit der Verschlechterung der Muskulatur des Klägers infolge seines zunehmenden Anfallsleidens, einer Fehlstellung des Hüftgelenks und den Problemen beim Ein- und Aussteigen in bzw. aus dem Auto begründet.
Auf Nachfrage des Beklagten berichtete der Orthopäde Dr. B. über eine beim Kläger vorliegende dauerhafte und fortgeschrittene ausgeprägte Beeinträchtigung der Geh- und Stehfähigkeit bei stark verminderter zentraler Koordination, die eine ständige Sturzgefahr begründe. Es sei deshalb wiederholt zu Verletzungen gekommen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11.02.2010 wurde der Widerspruch, der Empfehlung des zwischenzeitlich nochmals eingebundenen versorgungsärztlichen Dienstes folgend, zurückgewiesen.
Am 11.03.2010 haben die Bevollmächtigten des Klägers Klage zum Sozialgericht München erhoben.
Ins Verfahren eingeführt worden sind ein Bericht der behandelnden Kinderärztin vom 20.04.2010, die eine hochgradige globale Behinderung mit einem unsicheren, staksigen Gang bei allgemeiner Hypotonie und Bindegewebsschwäche angegeben hat, und ein Bericht über eine Mutter-Kind-Kur vom 22.08. bis zum 12.09.2009.
Die Klage ist wie folgt begründet worden: Aus dem ärztlichen Bericht der behandelnden Kinderärztin ergebe sich, dass die epileptischen Anfälle tags und nachts, mehrmals täglich mindestens drei bis vier Tage die Woche auftreten würden. Aktuell erleide der Kläger jede Nacht in der Regel zwei, teilweise bis zu acht epileptische Anfälle. Folge der nächtlichen Anfälle sei eine immense Verlangsamung der Gehirnfunktionen des Klägers tagsüber. Dies bedinge eine motorische Einschränkung, Gleichgewichtsstörungen und eine immense Schwäc...