Entscheidungsstichwort (Thema)
Trauma. Schädigungsfolge. Unmittelbare Kriegseinwirkung. Rentenberechtigender Grad der Schädigung. Sachverständiger. Antizipiertes Sachverständigengutachten. Sachdienliche Fragen
Leitsatz (amtlich)
Albträume und Nachhallerinnerungen, die auf kriegsbedingten psychischen Traumata beruhen, können auch bei Zivilpersonen als Schädigungsfolgen im Sinne von § 1 Abs.1, § 1 Abs.2 Buchst a und § 5 Bundesversorgungsgesetz (BVG) festzustellen sein. Ein rentenberechtigender Grad der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne von § 30 Abs.1, § 31 Abs.1 BVG resultiert hieraus jedoch regelmäßig nicht.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1-2, § 5 Abs. 1, § 30 Abs. 1, 17, § 31 Abs. 1, § 89; KOV-VfG § 15; SGB IX § 69; SGG § 106 Abs. 3 Nr. 5; ZPO § 411
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 3. April 2006 sowie der Bescheid des Beklagten vom 16. Mai 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 2003 insoweit teilweise aufgehoben und abgeändert, als der Beklagte verurteilt wird, die beim Kläger bestehenden "Albträume und Nachhallerinnerungen" als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) im Sinne der Entstehung in nicht rentenberechtigendem Grad anzuerkennen.
II. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
III. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 3/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 1937 geborene Kläger begehrt Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) in rentenberechtigendem Grad.
Er hat mit Erstantrag vom 02.05.2003 geltend gemacht, er habe zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern unter haftähnlichen Bedingungen zusammen mit acht Familienmitgliedern in einer Baracke in C-Stadt leben müssen. Die Lebensbedingungen seien völlig menschenunwürdig gewesen. Zwei- bis dreimal pro Woche seien jeweils zwei Gestapo-Beamte zur Kontrolle vorbeigekommen. Er und seine Familienangehörigen seien misshandelt, schikaniert, gedemütigt und seelischen Grausamkeiten ausgesetzt gewesen. Eines Tages sei er im Alter von vier Jahren von einem städtischen Arbeiter in C-Stadt misshandelt worden, indem dieser ihm mit dem Messer ins Ohr geschnitten habe. In panischer Angst sei er davongelaufen. Später sei er wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Sinti vom Schulbesuch ausgeschlossen worden. Aus diesem Grunde fehle ihm auch die Voraussetzung für eine ordentliche Berufsausbildung, die seinen Lebensunterhalt und seine Altersversorgung hätte sichern können. Ihm und seiner Familie sei täglich die Deportation in ein KZ angedroht worden. Man habe in ständiger Angst gelebt. Die gekürzten Lebensmittelrationen hätten zur Folge gehabt, dass er als Kind ständig unterernährt und sehr häufig krank gewesen sei. Seit seiner Kindheit leide er an Magen- und Darmbeschwerden, Schlafstörungen und Angstträumen, Bluthochdruck und schweren Kreislaufstörungen. Später seien in der Folge auch Bandscheibenprobleme und ein frühzeitiger Gelenkverschleiß hinzugekommen. Er sei heute ein körperliches und seelisches Wrack und fühle sich um ein normales Leben betrogen.
Der Beklagte hat es mit dem streitgegenständlichen Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung C-Stadt vom 16.05.2003 abgelehnt, Beschädigtenversorgung nach dem BVG zu bewilligen. Die vorgetragenen Umstände würden keinen Versorgungsanspruch nach dem BVG begründen. Nach dem BVG seien Zivilpersonen nur geschützt, wenn diese in unmittelbarem Zusammenhang mit kriegerischen Vorgängen zu Schaden gekommen seien. Die Schilderungen des Tatherganges würden keine unmittelbare Kriegseinwirkung darstellen. Ansprüche wegen nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen, die aus rassistischen Gründen und nicht aus militärischen Gründen begangen worden seien, könnten nur nach den Vorschriften des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) und nicht nach dem BVG entschädigt werden.
Der Widerspruch vom 05.06.2003 gegen den Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung C-Stadt vom 16.05.2003 ist mit Widerspruchsbescheid des Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 08.09.2003 zurückgewiesen worden. Ein möglicher Anspruch als Zivilperson setze eine gesundheitliche Schädigung durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne von § 1 Abs.2a i.V.m. § 5 BVG voraus. Offenbar habe der Kläger auch eine einmalige Beihilfe in Höhe von 5.000,00 DM nach den "Richtlinien für die Vergabe von Mitteln an Verfolgte nichtjüdischer Abstammung zur Abgeltung von Härten in Einzelfällen im Rahmen der Wiedergutmachung" erhalten. Gegen die Ablehnung einer laufenden Beihilfe habe er inzwischen durch seine Bevollmächtigte Klage beim Verwaltungsgericht Berlin eingelegt. Aus dieser Klagebegründung ließen sich keinerlei Hinweise auf das Vorliegen eines geschützten Tatbestandes nach dem BVG entnehmen.
Hier hat das Sozialgericht Bayreuth nach form- und fristgerechter Klageerhebung die Schwerbehinderten- und Versorgungsakten des Beklagten beigezogen. ...