Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Eine Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO kommt nicht in Frage, wenn ein gemäß §§ 44, 45 FGO vor Erhebung der Klage gebotener Einspruch bereits als unzulässig verworfen worden ist, und wenn diese Entscheidung ohne jeden ernstlichen Zweifel als zutreffend erscheint.
Ein Irrtum über das materielle Recht kann allein keine Nachsicht (§ 86 AO) begründen. Das gilt auch dann, wenn maßgebende Tatsachen dem Stpfl. nicht bekannt waren und nicht bekannt sein konnten.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 3; AO § 86
Tatbestand
Gegen den Bf. ist am 28. Januar 1966 ein Grunderwerbsteuerbescheid ergangen; er ist am selben Tag an ihn abgesandt worden. Der Bf. hält den Erwerb für grunderwerbsteuerfrei gemäß Art. 1 Nr. 1 Buchst. b des bayerischen Gesetzes über die Grunderwerbsteuerbefreiung für den sozialen Wohnungsbau (GrESWG) vom 11. Februar 1954 (GVBl 1954 S. 38) in der Fassung des Gesetzes zur änderung des Gesetzes über die Grunderwerbsteuerbefreiung für den sozialen Wohnungsbau vom 12. November 1958 (GVBl 1958 S. 330). Am 5. März 1966 hat er Einspruch gegen den Grunderwerbsteuerbescheid eingelegt. Wegen der Versäumung der Einspruchsfrist begehrt er Nachsicht, weil er die einspruchsbegründenden Tatsachen - daß nämlich für das begonnene Bauvorhaben auf dem erworbenen Grundstück noch mehr als die Hälfte der zur Vollendung erforderlichen Baukosten aufzuwenden seien - erst nach Fristablauf erfahren habe. Das FA hat Nachsicht abgelehnt und den Einspruch als unzulässig verworfen. Dagegen hat der Bf. Anfechtungsklage erhoben. Er hat beim Finanzgericht (FG) beantragt, die Vollziehung des Grunderwerbsteuerbescheids auszusetzen. Das FG hat den Antrag abgewiesen. Dagegen richtet sich die Beschwerde. Das FG hat ihr nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unbegründet. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes (Steuerbescheids) ganz oder teilweise aussetzen. Voraussetzung dafür ist aber, daß das Gericht in der Lage ist oder künftig in der Lage sein kann (§ 69 Abs. 3 Satz 2 FGO), zur Hauptsache zu erkennen oder daß dies - in Umkehrung des für den materiellen Bestand des Verwaltungsakts geltenden § 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Abs. 2 Satz 2 FGO - ernstlich möglich erscheint. Denn das Aussetzungsverfahren ist nur ein - wenn auch selbständiges - Nebenverfahren zu einem anhängigen oder künftig möglichen Hauptverfahren. Nicht auf das Hauptverfahren bezogene Gründe können daher - unbeschadet des § 150 Satz 3 FGO - die Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO nicht rechtfertigen. Demzufolge ist auch die Frage, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Abs. 2 Satz 2 FGO), nicht mehr aufzuwerfen, wenn das Gericht in der Hauptsache nicht mehr über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes entscheiden könnte, weil die dagegen erhobene oder noch zu erhebende Klage unzulässig ist. Eine Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO kommt daher nicht in Frage, wenn ein gemäß §§ 44, 45 FGO vor Erhebung der Klage gebotener Einspruch bereits als unzulässig verworfen worden ist, und wenn diese Entscheidung ohne jeden ernstlichen Zweifel (vgl. § 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Abs. 2 Satz 2 FGO als zutreffend erscheint. Das ist hier der Fall.
Der angefochtene Steuerbescheid ist nach Massgabe des § 211 Abs. 3 AO, § 17 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) am 28. Januar 1966 an den Kläger zur Post gegeben worden. Er galt damit für den Fall der Ablieferung bei der Postanstalt am 31. Januar 1966, für den Fall des Einwurfs in einen Straßenbriefkasten (§ 17 Abs. 3 Satz 2 VwZG) am 1. Februar 1966 als zugestellt (§ 17 Abs. 2 VwZG). Zu einem späteren Zeitpunkt als dem 1. Februar 1966 ist er dem Bf. auch nicht zugegangen (vgl. § 17 Abs. 2 VwZG). Denn unter dem Datum dieses Tages hat der Bf. bereits beim FA (dort eingegangen am 2. Februar 1966) unter Bezugnahme auf den nunmehr angefochtenen Steuerbescheid um Stundung nachgesucht. Die Einspruchsfrist von einem Monat (§ 236 Abs. 1 AO) begann somit bei ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung (§ 237 Abs. 1 Satz 1 AO) spätestens mit dem Beginn des 2. Februar 1966 zu laufen (§ 82 AO, § 187 Abs. 2 Satz 1 BGB); sie war spätestens am Mittwoch, dem 2. März 1966, abgelaufen (§ 82 AO, § 188 Abs. 2 BGB). Denn der letzte Tat der Frist, der 1. März 1966, war kein Feiertag. Der am 5. März 1966 eingelegte Einspruch vom 4. März 1966 war somit verspätet.
Nachsicht wegen der Versäumung der Einspruchsfrist (§ 86 AO) kann nicht gewährt werden. Denn der Bf. war nicht ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten (§ 86 Abs. 1 Satz 1 AO). Mit seinem Nachsichtantrag (§ 86 Abs. 2 AO) hat er vielmehr ebenso wie im weiteren Verfahren nur geltend gemacht, daß die den Befreiungstatbestand des Art. 1 Nr. 1 Buchst. b GrESWG begründenden Tatsachen ihm erst nach Ablauf der Einspruchsfrist bekannt geworden seien. Damit sind indessen nur die Motive dargelegt, aus denen heraus der Bf. davon absah, rechtzeitig Einspruch einzulegen; dies trotzdem zu tun, war er nicht "verhindert".
Das Institut der Nachsicht (§ 86 AO) entspricht der in den Prozeßordnungen vorgesehenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 233 ff. ZPO, 44 ff. der Strafprozeßordnung - StPO -, 60 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -, 56 FGO, 67 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Wie diese soll es der Unbilligkeit abhelfen, daß der Fristablauf auch gegen denjenigen wirkt, der gar nicht in der Lage war, die Frist einzuhalten. In diesen Fällen soll nach näherer Massgabe der einzelnen Vorschriften die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen bzw. die Unanfechtbarkeit von Bescheiden und Entscheidungen der Verwaltung aufgehoben und eine erneute Prüfung ermöglicht werden. Ob diese zum gleichen oder zu einem anderen Ergebnis führen wird, ist unerheblich. Nachsicht und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand haben also rein formelle Bedeutung; sie sind dazu bestimmt, einer unbilligen Härte des Fristablaufs abzuhelfen, nicht aber ursprüngliche oder erst nachträglich entstandene Fehler des ergangenen Spruchs um ihrer selbst willen zu bereinigen. Der Berichtigung ursprünglicher Fehler dient vielmehr in den Prozeßgesetzen die Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 578 ff. ZPO, 359 ff. StPO, 153 VwGO, 134 FGO, 179 ff. SGG); ihr entspricht - mit erheblichen Unterschieden im einzelnen - in der AO § 222. Nachträglich entstandene Tatsachen sind dagegen in der ZPO nach Massgabe des § 767 oder des § 323 geltend zu machen; der erstgenannten Vorschrift entsprechen das Abrechnungsverfahren der AO (§ 125) und für die Grunderwerbsteuer § 17 GrEStG, der zweitgenannten in einem viel weiteren Anwendungsbereich Vorschriften wie § 4 Abs. 2 und 3 StAnpG oder § 5 Abs. 2, § 6 Abs. 2, § 7 Abs. 2 BewG.
Daraus ergibt sich, daß die Nachsicht des § 86 AO ihr Wesen nicht dadurch geändert hat, daß sie jetzt nicht mehr für das finanzgerichtliche Verfahren gilt (hier: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO) und somit nur noch dem Steuerpflichtigen zustatten kommen kann. Damit entfällt zwar der Gesichtspunkt, daß die Nachsicht als ein Eingriff in die Rechtskraft zu würdigen ist; das erlaubt aber nicht den Schluß, daß sie somit dazu bestimmt wäre, jeder unverschuldeten Fristversäumung abzuhelfen, auch wenn der Steuerpflichtige nicht "verhindert" war, den Rechtsbehelf einzulegen. Gegenüber §§ 233 ff. ZPO ist § 86 AO nur insofern weiter, als er - wie auch die meisten Prozeßgesetze, welche Verfahren zwischen Staat und Bürger betreffen (§ 60 Abs. 2 VwGO, § 56 Abs. 1 FGO, § 67 Abs. 1 SGG) - keine Naturereignisse oder andere unabwendbaren Zufälle (§ 233 Abs. 1 ZPO), sondern nur unverschuldete Verhinderung verlangt (§ 86 Abs. 1 Satz 1 AO), und unter Umständen Nachsicht auch ohne Antrag gewährt werden kann (§ 86 Abs. 2 Satz 4 AO). Diese Abweichungen lassen aber die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Nachsicht und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf der einen Seite und den vorbezeichneten anderen außerordentlichen Rechtsbehelfen unberührt.
Somit muß sich auch in den Fällen des § 86 AO die Verhinderung auf die Möglichkeit beziehen, die versäumte Verfahrenshandlung vorzunehmen; auf die Gründe, welche den Steuerpflichtigen bewogen haben, die ihm bekannte Frist verstreichen zu lassen, kommt es grundsätzlich nicht an (Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, 2. Auflage 1965, § 86 Tz. 15; vgl. Wieczorek, Kommentar zur Zivilprozeßordnung § 233, Anm. B I). Ob davon eine Ausnahme zu machen ist, wenn die Säumnis des Steuerpflichtigen vom FA selbst veranlaßt worden ist, kann hier dahingestellt bleiben, da das weder ersichtlich noch behauptet ist. Ein Irrtum über das materielle Recht als solcher kann jedenfalls allein keine Nachsicht begründen (Urteile des BFH II 14/58 U vom 7. Mai 1958, BFH 67, 172, BStBl III 1958, 337; VI 175/59 U vom 22. Januar 1960, BFH 70, 474, BStBl III 1960, 178; Mattern-Messmer, Reichsabgabenordnung, 1964, Tz. 361). Denn die irrige Beurteilung der materiellen Rechtslage ist kein Hindernis, den Rechtsbehelf einzulegen; wer in einem solchen Fall von einem scheinbar aussichtslosen Rechtsbehelf absieht, läßt vielmehr die Frist bewußt verstreichen, obwohl er sie hätte wahren können. Das gilt auch dann, wenn die irrige Beurteilung der Rechtslage auf einen tatsächlichen Irrtum zurückzuführen ist, ja selbst dann, wenn maßgebende Tatsachen dem Steuerpflichtigen nicht bekannt waren und nicht bekannt sein konnten (Urteil des BFH III 77/59 U vom 28. April / 1. September 1961, BFH 74, 120, BStBl III 1962, 45).
Einzuräumen ist dem Bf. allerdings, daß sich die Rechtsprechung in gewissen Grenzen geneigt gezeigt hat, bei unverschuldetem Rechtsirrtum über die Dauer der Frist unter bestimmten Voraussetzungen Nachsicht oder Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, und daß man im engeren Sinne auch in diesen Fällen nicht von einer Verhinderung reden kann. Doch bleibt die Nachsicht in diesen Fällen immerhin noch in ihrem formellen Anwendungsbereich, da der Steuerpflichtige die Frist nicht bewußt hat verstreichen lassen (also durch die überzeugung, den Rechtsbehelf später noch einlegen zu können, "verhindert" wurde, ihn rechtzeitig einzulegen). Die enge Verwandtschaft der Nachsicht mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erlaubt aber nicht, diese Betrachtung auf den materiellen Rechtsirrtum auszuweiten. Denn dadurch würde im Ergebnis die Rechtskraft ausgehöhlt. Diese tritt nämlich unabhängig davon ein, ob den Parteien die materiell rechtserheblichen Tatsachen bekannt waren oder nicht.
Diese Begrenzung ist nicht gleichheitswidrig (Art. 3 Abs. 1 GG). Denn die Möglichkeit der Finanzverwaltung, die Veranlagung vor Ablauf der Verjährungsfrist zu berichtigen, wenn ihr neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden (§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO), korrespondiert - wie oben bereits dargestellt worden ist - nicht der dem Steuerpflichtigen zu gewährenden Nachsicht (§ 86 AO), sondern im prozessualen Bereich der Wiederaufnahme des Verfahrens; innerhalb der AO entsprechen sich § 222 Abs. 1 Nr. 1 und § 222 Abs. 1 Nr. 2. über die Anwendung der letztgenannten Vorschrift ist in diesem Verfahren nicht zu befinden, da auch im Verfahren zur Hauptsache nicht darüber entschieden werden kann. Daher ist hier auch nicht darauf einzugehen, weshalb die Voraussetzungen beider Vorschriften nicht völlig übereinstimmen.
Die Beschwerde war demnach mit der Kostenfolge des § 135 Abs. 2 FGO als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 412587 |
BStBl III 1967, 472 |
BFHE 1967, 541 |
BFHE 88, 541 |