Leitsatz (amtlich)
Das Urteil eines Oberlandesgerichts, durch welches der Revisionskläger nicht mit mehr als 60.000 DM beschwert wird und gegen das die Revision nicht zugelassen worden ist, kann auch nicht mit der Rüge angefochten werden, es stelle eine Überraschungsentscheidung dar und die Vorinstanz habe gegen die Gebote des fairen Verfahrens und rechtlichen Gehörs verstoßen.
Normenkette
ZPO § 546; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Thüringer OLG (Urteil vom 11.06.1998) |
LG Erfurt |
Nachgehend
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 11. Juni 1998 wird auf Kosten der Kläger als unzulässig verworfen.
Streitwert: 57.786 DM.
Gründe
1. Die fünf Kläger unterwarfen sich gegenüber der Beklagten in notarieller Urkunde vom 13. Januar 1992 unter anderem wegen einer Kaufpreisforderung von 2,25 Mio. DM nebst Zinsen der sofortigen Zwangsvollstreckung. Aus dieser Urkunde betreibt die Beklagte die Vollstreckung hinsichtlich eines Teilbetrages von insgesamt 57.786 DM (= 11.557,20 DM gegen jeden der fünf Kläger).
Die Kläger haben im ersten Rechtszug beantragt, die Zwangsvollstreckung aus der vollstreckbaren Urkunde vom 13. Januar 1992 für unzulässig zu erklären. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Im Berufungsrechtszug forderte der damalige Vorsitzende des erkennenden Senats des Oberlandesgerichts die Parteien zunächst auf, zur Höhe des Streitwertes Stellung zu nehmen. Darauf vertraten die Kläger unter anderem mit Schriftsatz vom 12. September 1995 die Auffassung, der Streitwert betrage 57.786 DM, weil die Beklagte nur in dieser Höhe die Zwangsvollstreckung aus der notariellen Urkunde vom 13. Januar 1992 betreibe und die Kläger nur insoweit die Vollstreckung abwehren wollten. Auf eine schriftliche Anregung des Vorsitzenden vom 19. September 1995, dies begrenzte Abwehrinteresse der Kläger durch eine entsprechende Beschränkung ihres Antrages klarzustellen, beantragten die Kläger, mit Schriftsatz vom 6. November 1995 und auch in der Folgezeit, die Zwangsvollstreckung aus der notariellen Urkunde vom 13. Januar 1992 wegen eines Teilbetrages von 57.786 DM für unzulässig zu erklären. Mit Schriftsatz vom 11. Dezember 1995 regten sie an, wegen der zu entscheidenden grundsätzlichen Rechtsfragen und der Bedeutung des Rechtsstreits für die Kläger die Revision zuzulassen.
In einem beiden Parteien zugestellten ausführlichen Hinweis- und Aufklärungsbeschluß des Oberlandesgerichts vom 30. April 1996 heißt es unter III:
„Der Senat wird im Hinblick auf die Bedeutung der Sache für beide Seiten, wie auch immer seine Entscheidung ausfällt, die Revision zulassen.”
Auf wiederholte Anregung des Oberlandesgerichts wurde im Verhandlungstermin vom 11. Juli 1996 ein Vergleich über den gesamten titulierten Anspruch mit einem Vergleichswert von 2,25 Mio. DM protokolliert, der aber von der Beklagten mit Schriftsatz vom 21. März 1997 widerrufen wurde.
Die Schlußverhandlung vor dem Berufungsgericht fand am 5. März 1998 statt. Zwischenzeitlich hatte die Senatsbesetzung gewechselt; keiner der an den vorangegangenen mündlichen Verhandlungen mitwirkenden Richter war in der Schlußverhandlung mehr beteiligt. Das Oberlandesgericht wies sodann die Berufung der Kläger zurück. Im Urteilstenor heißt es unter Nr. 5: „Die Revision wird nicht zugelassen”. Die Nichtzulassung der Revision wird in den Entscheidungsgründen ausführlich begründet.
Hiergegen richtet sich die Revision der Kläger. Sie bitten, über die Zulässigkeit des Rechtsmittels vorab zu entscheiden, und tragen unter Beweisantritt ergänzend vor: In der Schlußverhandlung vor dem Oberlandesgericht am 5. März 1998 habe der (neue) Senatsvorsitzende bekannt gegeben, bei den Akten befänden sich fünf verschiedene Urteilsvoten mit zum Teil völlig gegensätzlichen Ergebnissen; der Senat müsse sich in die schwierige Sach- und Rechtslage völlig neu einarbeiten. Sodann habe der Vorsitzende aus den Akten Nr. III des in der früheren Besetzung des OLG-Senats erlassenen Beschlusses vom 30. April 1996 (Ankündigung der Zulassung der Revision) wörtlich vorgelesen und erklärt, von einer so kraftvollen Äußerung werde natürlich der Senat auch in seiner jetzigen Besetzung nicht abweichen. Insbesondere aufgrund dieser Äußerung, so führen die Kläger weiter aus, hätten sie auf die Revisionszulassung vertraut und deshalb davon abgesehen, ihre Klage auf einen revisiblen Betrag zu erhöhen. Sie meinen, das Berufungsgericht habe mit der Nichtzulassung der Revision unter Verstoß gegen die verfassungsrechtlich garantierten Grundsätze eines fairen Verfahrens eine Überraschungsentscheidung erlassen.
2. Die Beschwer der Kläger übersteigt, wie auch die Revision nicht verkennt, 60.000 DM nicht (zur Zulässigkeit der nur gegen einen Teil des titulierten Anspruchs gerichteten Zwangsvollstreckungsgegenklage, vgl. BGH, Beschluß vom 2. Februar 1962 – V ZR 70/60 = NJW 1962, 806; OLG Köln, Rechtspfleger 1976, 138). Da es an einer Zulassung der Revision fehlt und das Revisionsgericht an die Nichtzulassung gebunden ist (BGH, Beschlüsse vom 26. September 1979 – VIII ZR 87/79 = NJW 1980, 344; vom 18. Februar und 9. Juni 1998 – IV ZB 16/97 und XI ZR 130/98 = NJW-RR 1998, 1445), ist die Revision unzulässig (§ 546 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Auch als außerordentliches Rechtsmittel ist die Revision nicht zulässig. In der Rechtsprechung hat sich zwar für Entscheidungen im Beschlußverfahren der Grundsatz herausgebildet, daß auch nach Abschluß des gesetzlichen Instanzenzuges in besonderen Ausnahmefällen ein außerordentlicher Rechtsbehelf gegeben sein kann, wenn die angefochtene Entscheidung mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist, weil sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und dem Gesetz inhaltlich fremd ist (vgl. zuletzt z.B. BGHZ 109, 41, 43; 119, 372, 374; 121, 397, 398 f; BGHR ZPO vor § 1/Rechtsmittel; Gesetzwidrigkeit, greifbare Nr. 13-22). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist indessen dieser für das Beschwerdeverfahren entwickelte Grundsatz auf das Urteilsverfahren nicht übertragbar (BGH, Beschluß vom 5. Juli 1989 – IVa ZR 38/89 = NJW 1989, 2758; vgl. auch Urteil vom 8. November 1994 – XI ZR 35/94 = NJW 1995, 403 unter Nr. 1 letzter Abs.).
Hiervon abgesehen, würde der von den Klägern geltend gemachte Rechtsverstoß eine sogenannte greifbare Gesetzwidrigkeit in dem genannten Sinne auch nicht rechtfertigen. Allerdings kommt nach den von ihnen im Revisionsrechtszug behaupteten und unter Beweis gestellten Äußerungen des (neuen) Senatsvorsitzenden in der Berufungsverhandlung vom 5. März 1998, der Senat werde auch in seiner jetzigen Besetzung von dem Hinweis der früheren Senatsmitglieder nicht abweichen, ein Verstoß des Gerichts gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs in Betracht. Zwar können Äußerungen des Gerichts über den voraussichtlichen Inhalt seiner späteren Entscheidung naturgemäß nur vorläufigen Charakter haben. Hier aber durften die Kläger unter Berücksichtigung einer derartigen Mitteilung des Senatsvorsitzenden angesichts des eindeutigen Inhalts des Beschlusses vom 30. April 1996 darauf vertrauen, daß sie nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens vor der Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision von der nachträglichen Meinungsänderung des Gerichts unterrichtet werden würden, damit sie Gelegenheit hatten, sich auf die veränderte Sachlage – etwa durch Erweiterung ihres Klageantrags auf einen die Revisionssumme übersteigenden Betrag – einzustellen. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör reicht jedoch für eine „greifbare Gesetzwidrigkeit” regelmäßig nicht aus, so daß aus diesem Gesichtspunkt auch im Beschlußverfahren ein weiterer Rechtszug nicht eröffnet wäre (BGHZ 130, 97, 99; BGH, Urteile vom 18. Oktober 1989 – III ZR 111/88 – NJW 1990, 838, 840, vom 8. November 1994 aaO unter I, 1 und vom 9. September 1997 – IX ZB 92/97 – NJW 1998, 82, vgl. zu der bei Verletzung des rechtlichen Gehörs erörterten Frage, ob und in welchen Fällen gegen rechtskräftige Urteile entsprechend § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO die Nichtigkeitsklage in Betracht kommt: BAG MDR 1994, 1044; BGH, Urteil vom 3. November 1993 – XII ZR 135/92 – NJW 1994, 589 unter III 1; vgl. BVerfG NJW 1992, 496; MünchKomm/Braun, ZPO § 579 Rdnr. 20 f m.w.Nachw.). Verstöße gegen prozessuale Grundsätze mit Verfassungsrang dürfen vom Rechtsmittelgericht – wie andere Fehler auch – regelmäßig nur im Rahmen eines statthaften und zulässigen Rechtsmittels berücksichtigt werden.
Unterschriften
Dr. Deppert, Dr. Zülch, Dr. Beyer, Dr. Leimert, Wiechers
Fundstellen
NJW 1999, 290 |
JR 1999, 423 |
Nachschlagewerk BGH |
WM 1999, 559 |
MDR 1999, 247 |
VersR 1999, 1125 |