Leitsatz (amtlich)
›a) Enthält ein Protokoll die Feststellung, "anliegendes Urteil" sei verkündet worden, so erbringt es nach der Neufassung des § 160a ZPO grundsätzlich auch dann, wenn die ihm beigefügte Anlage mit der Urteilsformel erst geraume Zeit nach der Sitzung hergestellt worden ist, Beweis dafür, daß das Urteil auf der Grundlage einer schriftlich fixierten Urteilsformel verkündet worden ist.
b) Zu den Anforderungen an den Nachweis einer Protokollfälschung.‹
Verfahrensgang
LG München II |
OLG München |
Tatbestand
Die Kläger verlangen von der Beklagten Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls, bei dem der Ehemann der Klägerin zu 2) und Vater der übrigen Kläger getötet worden ist.
Nach Erlaß eines von voller Haftung der Beklagten ausgehenden Grund- und Teilurteils des Landgerichts, das vom Oberlandesgericht rechtskräftig auf eine Haftungsquote von 4/5 abgeändert worden war, fand im Betrags verfahren vor dem Einzelrichter des Landgerichts die letzte mündliche Verhandlung am 13. Mai 1982 statt. Nach der hierüber aufgenommenen Niederschrift sollte eine Entscheidung am Ende der Sitzung verkündet werden. Das Protokoll enthält den vom Einzelrichter unterschriebenen Zusatz, daß am Ende der Sitzung in Abwesenheit der Parteien und ihrer Prozeßbevollmächtigten und ohne Hinzuziehung eines Protokollführers "anliegendes Endurteil (Schlußurteil)" verkündet wurde. In der Gerichtsakte befindet sich nachgeheftet ein aus dem Urteilseingang und der mehrseitigen Urteilsformel bestehendes, vom Einzelrichter unterzeichnetes Urteil mit dem vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle unterschriebenen Verkündungsvermerk vom 13. Mai 1982. In dieser abgekürzten Form ist das Urteil den Parteien gemäß richterlicher Verfügung vom 6. August 1982 übersandt worden. Am 9. November 1982 wurde dem Prozeßbevollmächtigten der Beklagten sodann das vollständige Schlußurteil des Landgerichts zugestellt, das die Beklagte zur Leistung von Schadensersatz in Kapital- und Rentenform verurteilte.
Die Beklagte, die bereits am 11. Oktober 1982 Berufung eingelegt hatte, nahm das Rechtsmittel mit einem am 19. November 1982 eingegangenen Schriftsatz zurück und legte zugleich erneut Berufung ein, die sie nach entsprechender Fristverlängerung am 19. Januar 1983 begründete. Die Klägerinnen zu 2 - 5, die ihrerseits am 22. Oktober und erneut am 22. November 1982 Berufung eingelegt hatten, nahmen ihre Rechtsmittel ebenfalls zurück und legten am 8. April 1983 Anschlußberufung ein. Das Berufungsgericht holte eine dienstliche Äußerung des Einzelrichters des Landgerichts über die Art der Urteilsverkündung am 13. Mai 1982 ein und verwarf sodann durch Urteil die Berufung der Beklagten; zugleich erklärte es die Anschließung der Klägerinnen für wirkungslos.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie ihre vor dem Berufungsgericht gestellten Anträge auf teilweise Klageabweisung weiterverfolgt und hilfsweise um Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht bittet.
Die Klägerinnen haben sich vor dem Bundesgerichtshof nicht vertreten lassen; zur mündlichen Verhandlung sind sie ordnungsgemäß geladen worden.
Entscheidungsgründe
A Da die Klägerinnen trotz rechtzeitiger Ladung im Verhandlungstermin nicht vertreten waren, mußte auf Antrag der Beklagten durch Versäumnisurteil entschieden werden (BGHZ 37, 79, 81). Dieses Urteil beruht Jedoch inhaltlich nicht auf einer Säumnisfolge, sondern berücksichtigt den gesamten derzeitigen Sach- und Streitstand (vgl. BGHZ 37, 79, 82).
B I. Das Berufungsgericht hält das Rechtsmittel der Beklagten für unzulässig. Es führt aus, die von der Beklagten am 11. Oktober 1982 eingelegte Berufung sei nicht rechtzeitig begründet und mit dem am 19. November 1982 eingegangenen Schriftsatz vom selben Tage zurückgenommen worden. Die mit demselben Schriftsatz eingelegte "erneute Berufung" der Beklagten sei verspätet, da sie erst nach Ablauf der Frist des § 516 ZPO eingegangen sei. Diese Frist habe am 13. November 1982 geendet, da das Schlußurteil des Landgerichts am 13. Mai 1982 wirksam verkündet worden sei. Das ergebe sich aus dem Sitzungsprotokoll und aus der dienstlichen Äußerung des Einzelrichters des Landgerichts. Ob diesem bei der Verkündung Verfahrensfehler unterlaufen seien, könne dahingestellt bleiben, da solche Verstöße nur mit einem zulässigen Rechtsmittel gerügt werden könnten, das hier nicht vorliege.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
1. Nach dem zutreffenden Ausgangspunkt des Berufungsgerichts wurde die Berufungsfrist des § 516 ZPO mangels vorheriger Zustellung des in vollständiger Form abgefaßten Schlußurteils des Landgerichts nur dann mit dem Ablauf von 5 Monaten nach dem 13. Mai 1982, also am 15. Oktober 1982, in Lauf gesetzt, wenn das Urteil am 13. Mai 1982 wirksam verkündet worden war. Fehlte es an einer solchen Verkündung, so lag im Rechtssinne noch kein Urteil vor (BGHZ 10, 327, 328 ff. und 346, 348; BGHZ (GSZ) 14, 39, 44), so daß auch der Lauf der Fünfmonatsfrist nicht beginnen konnte (BGHZ 42, 94, 97; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 42. Aufl., § 516 Anm. 3 C).
2. Die Feststellung des Berufungsgerichts, der Einzelrichter des Landgerichts habe das Schlußurteil am 13. Mai 1982 (wirksam) verkündet, ist von Verfahrensfehlern beeinflußt.
a) Entgegen der Rechtsansicht der Revision fehlt es allerdings nicht schon deshalb an einer wirksamen Verkündung, weil das Protokoll vom 13. Mai 1982, wie die Revision rügt, die Art der Verlautbarung des Urteils nicht bezeichnet hat.
Nach § 165 Satz 1 ZPO kann die Beachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden. Zu diesen Förmlichkeiten gehört gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO auch die Verkündung des Urteils. Diese erfolgt nach § 311 Abs. 2 Satz 1 ZPO durch die Vorlesung der Urteilsformel, die - bei der Verkündung in einem besonderen Verkündungstermin in Abwesenheit der Parteien - gemäß § 311 Abs. 4 Satz 2 ZPO durch eine Bezugnahme auf die Urteilsformel ersetzt werden kann. Die Angabe, welche dieser beiden Arten der Verkündung erfolgt ist, schreibt das Gesetz nicht vor. Dem Erfordernis des § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO ist deshalb Genüge getan, wenn der Richter - wie hier - lediglich protokolliert, daß "anliegendes Urteil verkündet" worden ist, selbst wenn dies zu Zweifeln über die von ihm gewählte Form der Verlautbarung veranlassen könnte (vgl. auch BGHZ 10, 327, 329).
b) Der Umstand, daß es vorliegend an der Verkündung in einem besonderen Termin und damit an den gesetzlichen Voraussetzungen des § 311 Abs. 4 Satz 2 ZPO für die vom Einzelrichter nach seiner dienstlichen Äußerung gewählte Verlautbarungsform der Bezugnahme fehlte, steht der Wirksamkeit der Verkündung nicht entgegen. Im Gegensatz zu der früheren Auffassung des Reichsgerichts entspricht es seit der Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen vom 14. Juni 1954 (BGHZ 14, 39) gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, daß die an die Verlautbarung eines Urteils und damit an dessen Existentwerden zu stellenden Mindestanforderungen nicht mit all den Formerfordernissen gleichgestellt werden können, die das Gesetz für die Verlautbarung aufgestellt hat (BGH aaO., S. 45). So hat der Bundesgerichtshof etwa die nicht ordnungsgemäße Bekanntgabe des Verkündungstermins (BGH aaO., S. 46 ff.) oder die fehlerhafte Ersetzung der Verkündung des Urteils durch dessen Zustellung (BGHZ 17, 118, 122) nicht als wesentliche Verlautbarungsmängel angesehen, die den Bestand des Urteils in Frage stellen. Dies muß auch für die verfahrensfehlerhafte Ersetzung der an sich gebotenen Verlesung des Urteilstenors durch eine Bezugnahme auf die Urteilsformel gelten. Beide Verlautbarungsformen werden vom Gesetz als gleichwertig angesehen. Sind die Parteien - wie hier - in dem nach dem Sitzungsprotokoll vorgesehenen Zeitpunkt der Verkündung nicht anwesend, so kann ihnen die Urteilsformel ohnehin nicht vorgelesen werden. Für sie stellt sich deshalb die Sachlage bei einer Bezugnahme auf die Urteilsformel nicht anders dar als bei deren Verlesung.
c) Jedoch hat das Berufungsgericht nicht verfahrensfehlerfrei festgestellt, daß der Einzelrichter des Landgerichts am 13. Mai 1982 tatsächlich eine der beiden vom Gesetz für die Verkündung vorgesehenen Verlautbarungsformen gewahrt hat.
aa) Die als "Geburtsakt" des Urteils anzusehende Verkündung (BGHZ 10, 346, 348) setzt bei beiden Formen der Verlautbarung voraus, daß zumindest die Urteilsformel im Zeitpunkt der Verkündung schriftlich niedergelegt ist. Fehlt es hieran, so kann weder eine Verlesung des Urteilstenors, noch eine Bezugnahme auf ihn erfolgen.
bb) Grundsätzlich erbringt die Protokollierung der Verkündung des Urteils in Verbindung mit der nach § 160 Abs. 3 Nr. 6 ZPO vorgeschriebenen Aufnahme der Urteilsformel in das Protokoll - sei es direkt oder, wie hier, als Anlage zum Protokoll (§ 160 Abs. 5 ZPO) - Beweis dafür, daß das Urteil auch in diesem Sinne ordnungsgemäß, d.h. auf der Grundlage einer schriftlich fixierten Urteilsformel verkündet worden ist. Das gilt selbst dann, wenn die der Reinschrift des Protokolls beigegebene Anlage, die die Urteilsformel enthält, nicht mit der bei der Verkündung vorliegenden Niederschrift identisch ist, sondern erst nachträglich gefertigt worden ist, wie die Beklagte hier behauptet hat. Sofern der II. Zivilsenat seinem Urteil vom 7. Oktober 1953 - II ZR 208/52 - BGHZ 10, 327, 329 f. eine andere Auffassung zugrunde gelegt haben sollte, ist dieses Urteil durch die Neufassung des § 160 a ZPO überholt. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber klargestellt, daß das Protokoll insgesamt anhand vorläufiger Aufzeichnungen erst nach dem Termin hergestellt werden kann; damit erlaubt das Gesetz nunmehr die spätere Übertragung einer vorläufig aufgezeichneten Urteilsformel in Reinschrift und deren Verbindung mit dem Protokoll als Protokollanlage. Auch ein derart nachträglich hergestelltes Protokoll ist mit der erhöhten Beweiskraft des § 165 ZPO ausgestattet. Das muß auch dann gelten, wenn das Protokoll unter Verletzung der Vorschrift des § 160 a Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht unverzüglich nach der Sitzung hergestellt wird und die vorläufigen Aufzeichnungen unter Verstoß gegen § 160 a Abs. 3 ZPO nicht zu den Prozeßakten genommen oder bei der Geschäftsstelle aufbewahrt werden. Zwar sind solche Nachlässigkeiten pflichtwidrig und sollten auf jeden Fall vermieden werden, weil sie die Zuverlässigkeit des Protokolls als des wichtigsten Belegs für ein ordnungsmäßiges Verfahren nachhaltig in Frage stellen. Gleichwohl hat es der Gesetzgeber bei der Vorschrift des § 165 ZPO belassen, nach der auch ein derartiges Protokoll allein Beweis für die Beachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten erbringt. Diese Beweiskraft des Protokolls entfällt - abgesehen von seiner Herstellung durch einen Unbefugten - nur, wenn und soweit sie durch äußere Mängel des Protokolls im Sinne von § 419 ZPO ganz oder teilweise aufgehoben oder gemindert ist. Derartige Mängel müssen aus der Protokollurkunde selbst hervorgehen; Verstöße gegen § 160 a Abs. 5 ZPO werden von § 419 ZPO nicht umfaßt.
cc) Erbringt deshalb das Protokoll im Streitfall Beweis auch dafür, daß der Einzelrichter sein Urteil auf der Grundlage einer schriftlich niedergelegten Urteilsformel verkündet hat, so läßt doch § 165 Satz 2 ZPO insoweit den hier von der Beklagten zu führenden Gegenbeweis der Protokollfälschung, d.h. der wissentlich falschen Beurkundung (RGZ 142, 383, 388), zu. Dieser Beweis kann mit allen zulässigen Beweismitteln geführt werden (Stein/Jonas/Pohle, ZPO, 19. Aufl., § 164 Anm. II 2; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann aaO., § 165 Anm. 2). Das verkennt auch das Berufungsgericht nicht; es meint jedoch zu Unrecht, die von der Beklagten insoweit vorgetragenen Umstände seien nicht stichhaltig und auch nicht unter Beweis gestellt.
Die Beklagte hat im Berufungsrechtszug mehrfach behauptet, am 13. Mai 1982 habe es keine Verkündung gegeben; nicht einmal am 6. August 1982 habe der Geschäftsstelle eine schriftliche Urteilsformel vorgelegen. Der dienstlichen Äußerung des Richters, er habe das Urteil am Nachmittag des 13. Mai 1982 im Sitzungssaal verkündet, nachdem er den Urteilstenor kurz zuvor in seinem Dienstzimmer auf der Schreibmaschine geschrieben habe, ist die Beklagte entgegengetreten. Sie hat einen genauen Zeitablauf unter Beweis gestellt, nach dem sich der Richter in der fraglichen Zeit nur so kurz in seinem Dienstzimmer aufgehalten hat, daß er die komplizierte, an neue Anträge vom selben Tag auszurichtende mehrseitige Urteilsformel auf die von ihm geschilderte Weise nicht hat schriftlich niederlegen können, und auch den Sitzungssaal nicht mehr aufgesucht hat. Sie hat ferner Vorgänge um die Herstellung des Protokolls unter Beweis gestellt, die, wenn sie zutreffen, ihre Behauptung unterstützen, die Urteilsformel sei von dem Richter erst Monate später niedergeschrieben worden, und die es schwer verständlich machen, warum der Richter in seiner dienstlichen Äußerung nicht von sich aus diese Vorgänge angesprochen und klargestellt hat. Bei dieser Sachlage kann auch bei Anlegung eines strengen Maßstabs an die Darlegungslast dessen, der sich gegenbeweislich auf eine Protokollfälschung im Sinne von § 165 Satz 2 ZPO beruft, von der Beklagten jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt eine weitere Präzisierung ihres Vorwurfs nicht verlangt werden, zumal die Anforderungen an die Parteien, die in derartigen Fällen durchweg auf bloße Indizien für den objektiven und auf Schlußfolgerungen für den subjektiven Tatbestand angewiesen sind, nicht überspannt werden dürfen.
Trifft das Vorbringen der Beklagten zu, war also die Urteilsformel des Schlußurteils des Landgerichts am 13. Mai 1982 noch nicht schriftlich abgefaßt, so konnte kein "anliegendes" Urteil verkündet werden. In diesem Fall liegt es nahe, daß der Einzelrichter in dem Protokoll vom 13. Mai 1982 wissentlich etwas Unrichtiges beurkundet hat. Deshalb sind die nach § 165 Satz 2 ZPO erheblichen Beweise der Beklagten zu erheben. Der erkennende Senat hält es für zweckmäßig, diese Aufgabe dem Berufungsgericht zu übertragen (vgl. dazu Senatsurteil vom 25. Oktober 1977 - VI ZR 198/76 VersR 1978, 155). Dieses wird insbesondere auch dem Hinweis der Revision nachzugehen haben, die Protokollanlage mit der Urteilsformel sei eine Ablichtung der erst nach dem 6. August 1982 hergestellten Urteilsreinschrift und spreche für das von der Beklagten behauptete Nichtvorliegen der Urteilsformel am 13. Mai 1982.
III. Der Rechtsstreit ist deshalb gemäß § 565 Abs. 1 ZPO zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 2992745 |
NJW 1985, 1782 |
DRsp IV(412)188a-b |
ZIP 1985, 248 |
MDR 1985, 396 |
VersR 1985, 45 |