Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör. Überraschungsentscheidung. mündliche Verhandlung. Erörterung des Sach- und Streitstands. keine Hinweispflicht des Gerichts auf voraussichtliche Beweiswürdigung. Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. kritische Äußerungen des Gerichts zu Unstimmigkeiten eines Gutachtens. Obliegenheit des Klägers zur weiteren Gehörsverschaffung. Beweisantrag auf Einholung einer ergänzenden Stellungnahme oder Antrag auf Schriftsatznachlass. Darlegungsanforderungen
Orientierungssatz
1. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern.
2. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass das LSG erstmals in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt habe, dass es dem Sachverständigen hinsichtlich einer GdB-Bewertung nicht folge, muss der Beschwerdeführer darlegen, inwiefern er in der mündlichen Verhandlung alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich weiteres rechtliches Gehör zu verschaffen (zB dass er einen Beweisantrag auf Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen oder einen Antrag auf Schriftsatznachlass gestellt hat).
Normenkette
SGG § 160a Abs 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 2, §§ 62, 106, 112 Abs. 2 S. 2, § 128 Abs 1 S. 1; ZPO § 411 Abs 3; GG Art. 103 Abs 1
Verfahrensgang
SG München (Entscheidung vom 31.03.2017; Aktenzeichen S 33 SB 631/15) |
Bayerisches LSG (Urteil vom 06.02.2019; Aktenzeichen L 2 SB 69/17) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Februar 2019 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. In der Hauptsache wendet sich die Klägerin gegen die Herabsetzung des bei ihr festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 60. Festgestellt sind bei ihr Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung (Einzel-GdB 50) sowie eine seelische Störung (Einzel-GdB 30) infolge eines am 24.11.2007 erlittenen Fahrradunfalls. Die Klägerin ist zudem der Auffassung, ihr ständen weiterhin die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G und B zu. Diesen Anspruch hat das LSG unter Auswertung der vorliegenden Arztberichte und Gutachten verneint, weil es in der Folgezeit nach dem Unfall zu einer massiven Verbesserung der Gehfähigkeit gekommen sei. Ausweislich des Berichts des Klinikums B. vom 11.6.2008 und der Einschätzung von Dr. K. in dessen Gutachten vom 21.9.2011 hätten sich die für den Erlass des Ausgangsbescheids vom 12.3.2008 maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse wesentlich geändert und sei der GdB lediglich noch mit 60 zu bewerten gewesen. Im Gegensatz zu Dr. Kiefer habe zwar der von der Klägerin beauftragte Sachverständige Dr. M. in seinem Gutachten vom 19.6.2018 einen leichten Schwindel mit einem Einzel-GdB von 20 und zusätzlich einen Hirnfunktionsschaden mit synkopalen Anfällen mit einem GdB von 40 angesetzt. Der Senat sei auch zu der Überzeugung gelangt, dass tatsächlich ein Schwindel als weitere Gesundheitsstörung mit einem Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen sei. Allerdings seien die synkopalen Anfälle, wie Dr. M. selbst schreibe, nicht belegt. Der Einzel-GdB von 20 für den leichten Schwindel erhöhe jedoch den Gesamt-GdB nicht über 60 hinaus. Da somit die Voraussetzungen des Merkzeichens G weggefallen seien, habe auch das Merkzeichen B nicht mehr vergeben werden können (Urteil vom 6.2.2019).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt. Sie rügt das Vorliegen von zwei Verfahrensmängeln gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Es liege eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG vor, weil es sich über die Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. M. hinweggesetzt habe, ohne von diesem eine ergänzende Stellungnahme einzuholen. Zudem liege die Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG vor, weil das LSG in der mündlichen Verhandlung erstmals mitgeteilt habe, dass es dem Sachverständigen Dr. M. hinsichtlich der GdB-Einzelbewertung für die synkopalen Stürze und Schwindelattacken mit Beinahestürzen und Stürzen der Klägerin nicht folge.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung vom 20.5.2019 genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund des Verfahrensmangels nicht ordnungsgemäß bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde - wie im Fall der Klägerin - darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diese Voraussetzungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
a) Die behauptete fehlerhafte Sachaufklärung iS von § 103 SGG durch das LSG ist nicht ausreichend dargelegt. Soweit die Klägerin rügt, das LSG hätte im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. M. einholen müssen, kann sie sich schon deshalb nicht auf den Verfahrensfehler einer unterlassenen Sachaufklärung mit Erfolg berufen, weil sie keinen bis zuletzt in der mündlichen Verhandlung des LSG vom 6.2.2019 zu Protokoll aufrechterhaltenen Beweisantrag benannt hat, den das LSG übergangen haben könnte (zu den Darlegungsanforderungen an eine Sachaufklärungsrüge s hierzu allgemein Senatsbeschluss vom 21.12.2017 - B 9 SB 70/17 B - Juris RdNr 3). Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Rüge der Klägerin, dass der Sachverständige Dr. M. sein Gutachten in bestimmten Punkten hätte vertiefen können, sodass der GdB mit 80 und die Merkzeichen G und B vom LSG hätten bejaht werden müssen. Sofern die Klägerin insoweit noch offene Fragen behauptet, so hat sie weder erläuterungsbedürftige Punkte im Rahmen ihres Fragerechts nach §§ 116 S 2, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO noch den Antrag auf Anhörung des Sachverständigen nach § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO vorgetragen (vgl hierzu insgesamt Senatsbeschlüsse vom 27.9.2018 - B 9 V 14/18 B - Juris RdNr 12 ff und vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - Juris RdNr 13 ff, jeweils mwN).
b) Soweit die Klägerin eine Verletzung der Hinweispflicht des LSG nach §§ 106, 112 Abs 2 S 2 SGG und damit zugleich im Rahmen einer Überraschungsentscheidung eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) rügt, reichen ihre Ausführungen ebenfalls nicht aus. Die Klägerin verkennt, dass insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen, besteht. Denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen. Deshalb gibt es auch keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (Senatsbeschluss vom 27.8.2018 - B 9 SB 19/18 B - Juris RdNr 7 mwN). Art 103 Abs 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem selbst ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte (Senatsbeschluss vom 27.8.2018, aaO). Die Klägerin zeigt aber nicht substantiiert auf, dass sie nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens insbesondere auch aufgrund der vorliegenden umfangreichen medizinischen Befundunterlagen und der eingeholten Sachverständigengutachten unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Entscheidung habe rechnen können. Das LSG hat der Klägerin vielmehr die Möglichkeit gegeben, unter Hinweis auf seiner Auffassung nach bestehende Unstimmigkeiten im Gutachten des Dr. M., hierzu eine gegenteilige Stellungnahme abzugeben. In diesem Zusammenhang hat die Klägerin auch nicht dargelegt, inwiefern sie in der mündlichen Verhandlung alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich weiteres rechtliches Gehör zu verschaffen. Sie behauptet nicht, dass sie vom Berufungsgericht daran gehindert worden sei, in der mündlichen Verhandlung durch ihren Prozessbevollmächtigten den in der Beschwerdebegründung bezeichneten Beweisantrag auf Einholung einer ergänzenden Stellungnahme von dem Sachverständigen Dr. M. oder einen Antrag auf Schriftsatznachlass zu stellen.
c) Die gegen die Beweiswürdigung des LSG gerichtete, also auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 S 1 SGG gestützte Rüge, kann nach der ausdrücklichen Regelung des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nicht zur Revisionszulassung führen. Deshalb ist es für die Frage der Zulassung zur Revision unerheblich, dass die Klägerin mit der Auswertung und Würdigung der vorliegenden Arztberichte und Sachverständigengutachten durch das Berufungsgericht nicht einverstanden ist (vgl Senatsbeschluss vom 16.11.2018 - B 9 V 26/18 B - Juris RdNr 10).
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen