Verfahrensgang
SG Reutlingen (Entscheidung vom 17.03.2021; Aktenzeichen S 2 SB 2630/19) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.12.2021; Aktenzeichen L 12 SB 1425/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Dezember 2021 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
In der Hauptsache wendet sich die Klägerin gegen die Aberkennung der Nachteilsausgleiche (Merkzeichen) "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "H" (Hilflosigkeit).
Das LSG hat wie vor ihm das SG entschieden, dass der Beklagte die Merkzeichen "B" und "H" zu Recht nicht weiter festgestellt habe. Mit dem Erreichen des 16. Lebensjahres verbunden mit dem Abschluss der Berufsausbildung sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X eingetreten. Die Klägerin habe keinen Anspruch mehr auf die Feststellung des Merkzeichens "B". Es sei nicht zu erkennen, dass die Klägerin bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sei oder dass Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen erforderlich seien. Bei dem Personenkreis der Gehörlosen könne nach Abschluss der Gehörlosenschule und vor allem nach Abschluss einer Ausbildung nicht aufgrund typischer Funktionsbeeinträchtigungen, insbesondere beeinträchtigter Kommunikationsfähigkeit, vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "B" ausgegangen werden. Die Klägerin habe nicht nur ihre Berufsausbildung mit kaufmännischer Berufsschule erfolgreich abgeschlossen, sondern im Anschluss daran auch eine neue Beschäftigung gefunden. Darüber hinaus habe sich im Erörterungstermin keine wesentliche Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit der Klägerin gezeigt. Das Merkzeichen "H" könne nicht angenommen werden, wenn schwerbehinderte Menschen nur in relativ geringem Umfang, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen seien. Der tägliche Zeitaufwand sei erst dann hinreichend erheblich, wenn sich dieser auf mindestens zwei Stunden täglich belaufe. Erreiche der tägliche Hilfebedarf einen Aufwand von mehr als einer, jedoch unter zwei Stunden, sei Hilflosigkeit anzunehmen, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege besonders hoch sei. Ergänzend bestimme Teil A Nr 5 Buchst d Doppelbuchst ee der (in Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung geregelten) Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG), dass bei Taubheit und an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit Hilflosigkeit ab Beginn der Frühförderung und dann - insbesondere wegen des in dieser Zeit erhöhten Kommunikationsbedarfs - in der Regel bis zur Beendigung der Ausbildung anzunehmen sei. Nach Auswertung der beigezogenen Unterlagen im Verwaltungs- und Klageverfahren sei die Klägerin nicht mehr hilflos. Weder die Klägerin selbst noch ihre Ärzte gäben an, dass die Klägerin Hilfebedarf beim An- und Auskleiden, der Nahrungsaufnahme, der Körperpflege oder dem Verrichten der Notdurft habe (Urteil vom 17.12.2021).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser LSG-Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt. Sie beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil sie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht ordnungsgemäß dargelegt hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
1. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihr (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) und die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 27.8.2020 - B 9 V 5/20 B - juris RdNr 6 mwN).
Diese Anforderungen verfehlt die Beschwerdebegründung. Die Klägerin versäumt es bereits, den vom LSG festgestellten Sachverhalt (§ 163 SGG) und die maßgebliche Verfahrensgeschichte darzustellen. Eine verständliche Sachverhaltsschilderung gehört aber zu den Mindestanforderungen einer Grundsatzrüge. Es ist nicht Aufgabe des BSG, sich im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren die entscheidungserheblichen Tatsachen aus dem angegriffenen Urteil selbst herauszusuchen (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 14.2.2020 - B 9 V 41/19 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 12.2.2018 - B 10 ÜG 12/17 B - juris RdNr 7; BSG Beschluss vom 29.9.2017 - B 13 R 365/15 B - juris RdNr 3). Vielmehr muss die maßgebliche Sachverhaltsdarstellung der Beschwerdebegründung das BSG in die Lage versetzen, sich ohne Studium der Gerichts- und Verwaltungsakten allein aufgrund des Beschwerdevortrags ein vollständiges Bild über den Streitgegenstand sowie seine tatsächlichen und rechtlichen Streitpunkte zu machen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 30.11.2017 - B 9 V 36/17 B - juris RdNr 10 mwN). Die bloße Behauptung, dass die angefochtenen Bescheide des Beklagten und die Entscheidungen der Vorinstanzen rechtswidrig seien und die Wiedergabe des eigenen Vortrags im Klage- und Berufungsverfahren, ohne den Hinweis, ob diese Darstellung der entspricht, die das LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, genügt dafür nicht (vgl BSG Beschluss vom 10.10.2017 - B 13 R 247/17 B - juris RdNr 4).
Unabhängig davon hat die Klägerin auch keine klärungsbedürftige Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG bezeichnet.
Sie hält es für grundsätzlich bedeutsam,
"ob ein gehörloser Behinderter auch dann regelmäßig auf fremde Hilfe bei Nutzung von Verkehrsmitteln angewiesen ist, wenn zu befürchten ist, dass seine Hörhilfen nicht immer zum Ausgleich der Behinderung zur Verfügung stehen",
und ob,
"ein schwerbehinderter Gehörloser den Begriff der Hilflosigkeit nach § 33b Einkommenssteuergesetz erfüllt, wenn er nachts keine Hörhilfen tragen kann, sowie für den Fall, dass Hörhilfen ausfallen und nicht genutzt werden können und er deswegen auf fremde Hilfe angewiesen ist im Bereich von Alltagsverrichtungen und Kommunikation."
Nicht näher erörtert zu werden braucht, ob es sich dabei um Rechtsfragen iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG handelt (vgl hierzu BSG Beschluss vom 4.1.2022 - B 9 V 22/21 B - juris RdNr 13). Denn die Beschwerdebegründung zeigt bereits den Klärungsbedarf der aufgeworfenen Fragestellungen nicht hinreichend auf. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. Als höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das BSG diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von der Beschwerde als grundsätzlich bedeutsam herausgestellten Rechtsfrage ergeben (stRspr; zB BSG Beschluss vom 25.10.2018 - B 9 V 27/18 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 27.8.2018 - B 9 SB 24/18 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 29.5.2018 - B 8 SO 5/18 B - juris RdNr 9 mwN). Deshalb muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG zu dem geltend gemachten Problemkreis substantiiert vorgetragen werden, dass das BSG zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidung gefällt oder durch die schon vorliegenden Urteile die hier maßgebenden Fragen von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet hat (stRspr; zB BSG Beschluss vom 14.2.2019 - B 9 SB 49/18 B - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 14.9.2017 - B 5 R 258/17 B - juris RdNr 10).
Dies ist hier nicht in dem gebotenen Maße geschehen. Die Klägerin setzt sich in ihrer Beschwerdebegründung weder mit den hier einschlägigen Bestimmungen im SGB X, SGB IX, Einkommensteuergesetz (EStG) und in den VMG zum Entzug und zur Feststellung der Merkzeichen "B" und "H" noch mit der hierzu ergangenen und vom LSG in der angefochtenen Entscheidung auch zitierten Rechtsprechung des BSG (ua Urteil vom 12.2.2003 - B 9 SB 1/02 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 1; Urteil vom 12.11.1996 - 9 RVs 5/95 - BSGE 79, 223 = SozR 3-1300 § 48 Nr 57) auseinander. Sie versäumt es deshalb zu prüfen, ob sich aus dieser Rechtsprechung schon ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von ihr aufgeworfenen Fragestellungen ergeben. Allein die Darstellung der eigenen Rechtsansicht mit dem abschließenden Hinweis, die "Auslegungen der Merkzeichen" seien "entsprechend zu erweitern", reicht zur Darlegung eines weiteren Klärungsbedarfs durch das Revisionsgericht nicht aus. Darüber hinaus fehlt es an substantiierten Ausführungen insbesondere zum Inhalt und Bedeutungsgehalt der hier in Frage stehenden Regelungen in den VMG sowie den hier einschlägigen Bestimmungen im SGB IX und EStG und der Erörterung der Sachgründe ihrer jeweiligen Ausgestaltung, wie sie sich auch aus den benannten Entscheidungen des BSG ergeben. Vielmehr führt die Klägerin lediglich aus, weshalb aus ihrer Sicht die Aberkennung der Merkzeichen "B" und "H" fehlerhaft sei. Die bloße Behauptung der inhaltlichen Unrichtigkeit des LSG-Urteils genügt aber nicht. Eine allgemeine Überprüfung des Rechtsstreits in dem Sinne, ob das LSG in der Sache richtig entschieden hat, ist im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht zulässig und kann daher nicht deren Erfolgsaussichten begründen (BSG Beschluss vom 27.8.2018 - B 9 SB 24/18 B - juris RdNr 7 mwN).
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15291993 |