Leitsatz (amtlich)
1. Der Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes nach SGG § 109 kann auch hilfsweise für den Fall gestellt werden, daß dem Klageantrag nicht oder nicht in vollem Umfang entsprochen wird.
2. Der Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes nach SGG § 109 kann auch im Verfahren mit mündlicher Verhandlung wirksam schriftlich gestellt werden. Der Vorsitzende des Gerichts kann in einem solchen Falle nach SGG § 106 Abs 3 Nr 5 auch dann das Gutachten schon vor der mündlichen Verhandlung einholen, wenn der Antrag nur hilfsweise für den Fall gestellt wird, daß dem Klageantrag nicht oder nicht in vollem Umfang entsprochen wird.
Normenkette
SGG § 106 Abs. 3 Nr. 5 Fassung: 1953-09-03, § 109 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 6. November 1957 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision ist zwar form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, sie ist jedoch nach § 160 in Verbindung mit § 162 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht statthaft. Da das Landessozialgericht die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und eine Verletzung des Gesetzes im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG schon deshalb nicht vorliegen kann, weil über einen Ursachenzusammenhang im Sinne dieser Vorschrift nicht entschieden worden ist und auch nicht zu entscheiden war, hätte sie nur statthaft sein können, wenn ein vom Revisionskläger gerügter Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG durchgreifen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Der Revisionskläger rügt zwar, das Landessozialgericht habe § 109 SGG verletzt, weil es dem von ihm in der letzten mündlichen Verhandlung am 6. November 1957 hilfsweise gestellten Antrag auf Einholung eines Gutachtens von Dr. M... nicht stattgegeben habe. Nach § 109 SGG muß das Gericht zwar auf Antrag des Versicherten einen bestimmten Arzt gutachtlich hören; es kann jedoch davon absehen, wenn dadurch die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Wenn auch diese letztere Entscheidung im freien Ermessen des Gerichts steht, so kann das Revisionsgericht doch nachprüfen, ob das entscheidende Gericht hierbei die Grenzen seines Ermessens überschritten hat (BSG., Urt. v. 18.12.1956, SozR. Verf. 109 Da 2 Nr. 4). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Nachdem bereits im Januar 1957 die Beweisaufnahme ersichtlich abgeschlossen war und dem Kläger Abschriften der Gutachten und Auskünfte übersandt worden waren, ihm auch anheimgestellt worden war, die Unfallakten der zuständigen Berufsgenossenschaft einzusehen, hätte er bereits im Frühjahr 1957 die Akten einsehen, seinen ärztlichen Berater hören und gegebenenfalls anschließend den Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG stellen können. Es ist daher nicht verständlich, daß er diesen Antrag erst im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21. Oktober 1957 gestellt hat. Der Kläger irrt, wenn er annimmt, daß der Antrag nach § 109 SGG nur in mündlicher Verhandlung gestellt werden könne. Es ist zwar richtig, daß im Verfahren mit mündlicher Verhandlung Anträge in der Regel wirksam nur in der mündlichen Verhandlung gestellt werden können; das SGG kennt jedoch eine Reihe von Ausnahmen von diesem Grundsatz. Eine derartige Ausnahme ergibt sich aus § 106 Abs. 2 und 3 SGG. Nach dieser Vorschrift hat der Vorsitzende u.a. die Pflicht, bereits vor der mündlichen Verhandlung die Begutachtung durch Sachverständige anzuordnen und ausführen zu lassen, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Dem kann er aber hinsichtlich der Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG nur nachkommen, wenn der Antrag auch wirksam schon vor der mündlichen Verhandlung, also schriftlich gestellt werden kann. Man muß also annehmen, daß nach dem Willen des Gesetzgebers insoweit das Mündlichkeitsprinzip eingeschränkt ist (vgl. dazu für den Zivilprozeß Baumbach, Komm. zur ZPO, 25. Aufl., Anm. 3 zu § 272 b). Der Kläger hat den Antrag nach § 109 SGG allerdings nur für den Fall gestellt, daß sein Anspruch keinen Erfolg hat. Aus dieser Fassung des Antrags sind grundsätzliche Bedenken nicht herzuleiten. Bedingte Prozeßhandlungen sind zwar im allgemeinen unzulässig. Wenn aber, wie hier, ein Antrag von innerprozessualen Vorgängen abhängig gemacht wird, kann eine bedingte Prozeßhandlung als zulässig erachtet werden, weil hierdurch keine Unsicherheit in das Verfahren getragen wird (Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., § 61 IV). Aber auch insoweit kann diese Bedingung nur als wirksam anerkannt werden, als sie das Recht und die Pflicht des Vorsitzenden, nach § 106 Abs. 2 und 3 SGG das Gutachten schon vor der mündlichen Verhandlung einzuholen, nicht einschränkt. Andernfalls würde durch einen solchen Antrag der mit § 106 Abs. 2 und 3 SGG bezweckte Erfolg, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen, durch den Kläger vereitelt werden können, weil der Vorsitzende nicht in der Lage wäre, von sich aus bereits über diesen Antrag zu entscheiden, sondern erst abwarten müßte, welche Stellung das (vollbesetzte) Gericht in der mündlichen Verhandlung zu dem materiellen Anspruch einnimmt. Damit wäre aber der mit § 106 Abs. 2 und 3 SGG bezweckte Erfolg, die Sache möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen, vereitelt. Eine Bedingung aber, welche dem ausgesprochenen Zweck des Gesetzes widerspricht, kann nicht als zulässig anerkannt werden. Im Zweifel wird vielmehr der Antrag, wie auch hier, dahingehend aufzufassen sein, daß auch der Vorsitzende des Gerichts das Gutachten einholen soll, falls er den Anspruch nicht ohnedies als begründet ansieht.
Zu Recht hat das Landessozialgericht hier angenommen, daß bei einer Stattgabe des Antrags der Rechtsstreit verzögert werden würde, weil die Sachentscheidung dann erst in einem neu anzuberaumenden späteren Termin hätte getroffen werden können. Das Landessozialgericht hat auch nicht die Grenzen des ihm zustehenden Rechts auf freie Entscheidung überschritten, wenn es bei diesem Sachverhalt annimmt, daß der Kläger den Antrag aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt hat. Da die Beweisaufnahme bereits im Frühjahr 1957 abgeschlossen war, dem Kläger Abschriften der Gutachten und Auskünfte zugestellt worden waren und ihm auch anheimgestellt worden war, die Unfallakten der Berufsgenossenschaft einzusehen, hätte er - wie bereits ausgeführt - lange vor Anberaumung des Verhandlungstermins die Unfallakten einsehen, seinen ärztlichen Berater hören und den Antrag nach § 109 SGG stellen können. Die von ihm angegebenen Entschuldigungsgründe sind schon deshalb nicht anzuerkennen, weil er nicht erklären konnte, warum er die Unfallakten nicht schon früher, als geschehen, eingesehen hat.
Da die Revision somit nicht statthaft ist, mußte sie nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen