Leitsatz (amtlich)
Wird in der mündlichen Verhandlung ein Antrag nach SGG § 109 Abs 1 gestellt, so darf das Gericht diesen Antrag jedenfalls dann nicht nach SGG § 109 Abs 2 als "verspätet" ablehnen, wenn es in der gleichen mündlichen Verhandlung und zur gleichen Beweisfrage auch selbst einen ärztlichen Sachverständigen hört.
Leitsatz (redaktionell)
Der Kläger handelt grob nachlässig, wenn er den Antrag nach SGG § 109 erst in der mündlichen Verhandlung stellt, wiewohl er Anlaß gehabt hat ihn schon vorher schriftlich zu stellen.
Die Unterlassung des Antrages bis zum Termin kann dem Kläger aber nicht als grobe Nachlässigkeit zugerechnet werden, wenn das Gericht selbst noch nicht die Erhebungen vorgenommen hat, die ihm notwendig erschienen sind.
Normenkette
SGG § 109 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 13. Dezember 1957 wird aufgehoben, die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger beantragte im Juli 1952 Versorgung wegen Kopf- und Rückgratverletzungen; er führte diese Körperschäden auf einen Unfall während seines Wehrdienstes im Mai 1945 zurück. Das Versorgungsamt (VersorgA.) F lehnte den Antrag mit Bescheid vom 25. Juni 1954 ab, weil die Veränderungen an der Wirbelsäule des Klägers altersbedingt seien und mit dem Unfall nicht in einem ursächlichen Zusammenhang ständen, die Kopfschmerzen und die Schwindelanfälle, über die der Kläger klage, seien auf diese altersbedingten Veränderungen zurückzuführen. Das Landesversorgungsamt wies den Widerspruch mit Bescheid vom 13. Dezember 1954 zurück. Das Sozialgericht (SG.) Schleswig wies die Klage durch Urteil vom 10. Januar 1956 ab: Es bestehe kein Anhalt dafür, daß der Kläger bei dem Unfall eine Hirnverletzung erlitten habe, es sei nur ein "postcommotioneller Restzustand" festzustellen, dieser bedinge aber keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) meßbaren Grades; die Beschwerden des Klägers beruhten auf einer Osteochondrose (Erkrankung der Wirbelsäule); diese sei nicht auf den Unfall zurückzuführen. Der Kläger legte am 24. Februar 1956 Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig hörte in der mündlichen Verhandlung vom 13. Dezember 1957 den Facharzt für Neurologie Dr. Neumann als Sachverständigen über die Körperschäden des Klägers und ihre Ursachen. Der Kläger beantragte in der mündlichen Verhandlung "hilfsweise", ein Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. med. H in Sch nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einzuholen. Das LSG. wies mit Urteil vom 13. Dezember 1957 die Berufung des Klägers zurück: Aus den Gutachten der Ärzte, die das SG. und der Beklagte gehört hätten, sowie aus dem überzeugenden Gutachten, das der Sachverständige Dr. N in der mündlichen Verhandlung erstattet habe, ergebe sich, daß die Unfallfolgen die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht in einem rentenberechtigenden Grade beeinträchtigten; ein Anspruch auf Rente bestehe daher nicht. Der Antrag des Klägers, den Facharzt für Chirurgie Dr. H als Sachverständigen zu hören, sei nach § 109 Abs. 2 SGG abzulehnen; der Kläger habe mehr als 1 1/2 Jahre vor der Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung Zeit gehabt, einen derartigen Antrag zu stellen, wenn er Zweifel an der Richtigkeit der bisherigen ärztlichen Gutachten gehabt habe.
Das Urteil des LSG. wurde dem Kläger am 25. April 1958 zugestellt. Der Kläger legte am 13. Mai 1958 Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG. Schleswig aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Kläger begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 11. Juli 1958: Das LSG. habe zu Unrecht festgestellt, es sei bei dem Unfall des Klägers nicht zu einer schweren traumatischen Einwirkung auf die Wirbelsäule gekommen; es habe insoweit die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt; das LSG. habe ferner den Antrag des Klägers, den Facharzt Dr. H nach § 109 SGG zu hören, zu Unrecht abgelehnt, weil er erst in der mündlichen Verhandlung gestellt worden sei; es habe damit gegen die Vorschrift des § 109 SGG verstoßen; der Kläger habe davon ausgehen dürfen, daß das LSG. zunächst von sich aus noch weitere Beweise erheben werde.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Zu Recht rügt der Kläger, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel, weil das LSG. gegen § 109 SGG verstoßen habe.
Hat das Gericht den Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 2 SGG abgelehnt, so liegt darin allerdings nur dann ein Mangel des Verfahrens, wenn sich falls dem Antrag stattgegeben worden wäre, der Rechtsstreit nicht verzögert hätte oder wenn das Gericht mit seiner Annahme, der Antrag sei in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt worden, die Grenzen seines Rechts, hierüber nach freier Überzeugung zu entscheiden (§ 128 SGG), überschritten hat (vgl. Beschluß des BSG. vom 18.12.1956, SozR. Nr. 4 zu § 109 SGG). Im vorliegenden Fall hat zwar das LSG. zu Recht angenommen, daß sich die Erledigung des Rechtsstreits verzögert hätte, wenn auf den Antrag in der mündlichen Verhandlung vom 13. Dezember 1957 nach § 109 SGG ein Arzt gutachtlich gehört worden wäre; dann hätte nämlich in diesem Termin das Urteil noch nicht ergehen können, es hätte vielmehr ein neuer Termin anberaumt werden müssen. Das LSG. hat aber die Grenzen seines Rechts, nach freier Überzeugung zu entscheiden, nicht eingehalten, wenn es angenommen hat, der Antrag sei aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt worden.
Der Antrag nach § 109 SGG kann sowohl schriftlich als auch mündlich wirksam gestellt werden (vgl. Beschluß des BSG. vom 2.4.1958, SozR. Nr. 17 zu § 109 SGG); der Kläger darf deshalb den Antrag grundsätzlich nicht erst in der mündlichen Verhandlung stellen, wenn für ihn Anlaß besteht, den Antrag nach § 109 SGG bereits vorher schriftlich zu stellen; das ist jedenfalls dann der Fall, wenn das Gericht bereits vor der mündlichen Verhandlung nach § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG ein Sachverständigengutachten einholt, dem Kläger bekanntgibt und ihm anheimstellt, sich hierzu zu äußern. Erkennt der Kläger oder muß er erkennen, daß das Gericht damit die Beweisaufnahme als beendet ansieht, so handelt er grobnachlässig, wenn er den Antrag nach § 109 SGG nicht in angemessener Frist stellt; er darf, falls diese Frist vor der mündlichen Verhandlung endet, mit dem Antrag nicht bis zur mündlichen Verhandlung warten (vgl. Beschluß des BSG. vom 10.12.1958, SozR. Nr. 24 zu § 109 SGG; Beschluß des BSG. vom 28.2.1959 - 11/8 RV 211/57 -).
Im vorliegenden Fall hat jedoch für den Kläger kein Anlaß bestanden, den Antrag nach § 109 SGG schon vor dem Termin zu stellen. Das LSG. hat noch zur mündlichen Verhandlung Dr. med. N als ärztlichen Sachverständigen geladen und ihn in dieser Verhandlung ein Gutachten über die Gesundheitsstörungen des Klägers und ihre Ursachen erstatten lassen. Die Beweisaufnahme ist hier vor der mündlichen Verhandlung offensichtlich noch nicht abgeschlossen gewesen; das LSG. hat von der Möglichkeit, das Gutachten des ärztlichen Sachverständigen nach § 106 Abs.3 Nr. 5 SGG vor der mündlichen Verhandlung einzuholen, keinen Gebrauch gemacht. Der Kläger hat den Antrag nach § 109 SGG nicht stellen müssen, solange die Äußerung des "Terminsarztes" nicht vorgelegen hat, das Gericht also die Beweisaufnahme erkennbar noch nicht als beendet angesehen hat. Der Kläger hat zwar von der Einlegung der Berufung bis zur mündlichen Verhandlung etwa eineinhalb Jahre lang Zeit gehabt, um den Antrag nach § 109 SGG zu stellen; das LSG. hat es ihm aber nicht als "grobe Nachlässigkeit" zurechnen dürfen, daß er den Antrag in dieser Zeit nicht gestellt hat, wenn es selbst diese Zeit nicht ausgenutzt hat, um die Erhebungen, die ihm noch notwendig erschienen sind, vorzunehmen. Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG. aus dem Verhalten des Klägers hat schließen dürfen, der Kläger habe keine oder nur geringe Zweifel an der Richtigkeit der Gutachten, deren Erstellung die Beklagte und das SG. veranlaßt haben; jedenfalls hat das LSG. selbst diese Gutachten noch nicht für ausreichend gehalten, es hat sich veranlaßt gesehen, noch einen Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung zu hören; auf das "überzeugende Gutachten" dieses Sachverständigen hat es seine Entscheidung dann auch gestützt. Der Antrag nach § 109 SGG ist deshalb durch den Kläger erst so spät gestellt worden, weil das Gericht nicht bereits vor der mündlichen Verhandlung die Maßnahmen getroffen hat, die notwendig gewesen sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden (§ 106 Abs. 2 SGG). Wird in der mündlichen Verhandlung ein Antrag nach § 109 Abs. 1 SGG gestellt, so darf das Gericht diesen Antrag jedenfalls dann nicht nach § 109 Abs. 2 SGG als "verspätet" ablehnen, wenn es in der gleichen Verhandlung und zur gleichen Beweisfrage auch selbst einen ärztlichen Sachverständigen hört. Der Antrag hat auch "hilfsweise", d.h. für den Fall gestellt werden dürfen, daß dem Klagebegehren nicht (ohnehin) im vollen Umfange stattgegeben werde; eine unzulässige bedingte Prozeßhandlung hat insoweit nicht vorgelegen (vgl. Beschluß des BSG. vom 2.4.1958 SozR. Nr. 17 zu § 109). Das LSG. hat daher die Verfahrensvorschrift des § 109 SGG nicht richtig angewandt, wenn es den Antrag des Klägers abgelehnt hat. Darin liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (vgl. auch BSG. 2, 255 und 258); der Kläger hat diesen Mangel auch in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Da sie der Kläger auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet hat, ist sie zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG., wenn es die Verfahrensvorschrift des § 109 SGG richtig anwendet, zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil des LSG. ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden; der Sachverhalt ist infolge des Verstoßes des LSG. gegen eine verfahrensrechtliche Vorschrift nicht ausreichend geklärt, die Beweisaufnahme ist nicht erschöpfend gewesen. Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen