Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Örtliche Zuständigkeit des Sozialgerichts bei unbekanntem Beschäftigungsort, Wohnsitz und Aufenthaltsort
Leitsatz (amtlich)
Sind bei Klageerhebung der Beschäftigungsort, Wohnsitz und Aufenthaltsort der als Versicherte klagenden Partei unbekannt, bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit nach deren letzten Wohnsitz.
Normenkette
SGG §§ 57, 58 Abs. 1 Nr. 5, § 202; ZPO §§ 12, 16
Verfahrensgang
SG Fulda (Entscheidung vom 24.07.2008; Aktenzeichen S 2 R 121/08) |
Tatbestand
Die 1931 geborene Klägerin, die im Zuständigkeitsbereich des Sozialgerichts (SG) Kassel wohnte, bezog aus der gesetzlichen Rentenversicherung eine Witwenrente und befand sich zuletzt in einer Klinik, die ebenfalls im Zuständigkeitsbereich des SG Kassels liegt. Seit dem 9.8.2006 wird sie vermisst. Es ist nicht bekannt, ob sie noch lebt und wo sie sich aufhält. Die als Abwesenheitspflegerin bestellte Tochter der Klägerin erhob in deren Namen gegen die die Witwenrente einstellenden Bescheide des beklagten Rentenversicherungsträgers vor dem für ihren Wohnort zuständigen SG Fulda am 25.4.2008 Klage.
Das SG Fulda hat nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 24.7.2008 das Bundessozialgericht (BSG) zur Bestimmung des örtlich zuständigen SG angerufen, weil es eine örtliche Zuständigkeit nach § 57 SGG iS von § 58 Abs 1 Nr 5 SGG nicht für gegeben hält. Die Meldebescheinigung der Gemeindeverwaltung des bisherigen Wohnortes der Klägerin vom 7.5.2008 belege nicht den Wohnsitz, Aufenthaltsort oder Beschäftigungsort der Klägerin zur Zeit der Klageerhebung in dieser Gemeinde, weil deren Aufenthalt seit dem 9.8.2006 unbekannt sei. Deswegen sei die Verweisung an das für diese Gemeinde örtlich zuständige SG Kassel nicht möglich. Auch auf den Wohnsitz der die Klägerin vertretenden Abwesenheitspflegerin könne nicht abgestellt werden, weil allein der Wohnsitz, Aufenthaltsort oder Beschäftigungsort der Klägerin die örtliche Zuständigkeit des SG bestimme. Dies gelte auch dann, wenn davon ausgegangen werden könnte, dass die Klägerin geschäftsunfähig und deswegen prozessunfähig sei.
Entscheidungsgründe
Der an das BSG gerichtete Antrag, das örtlich zuständige Gericht zu bestimmen, ist nicht statthaft.
Gemäß § 58 Abs 1 SGG wird unter den dort genannten Voraussetzungen das zuständige Gericht innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit durch das gemeinsame nächsthöhere Gericht bestimmt. Die Voraussetzungen der vorliegend allein als einschlägig in Betracht kommende Nr 5 des § 58 Abs 1 SGG liegen nicht vor. Eine Zuständigkeitsbestimmung nach dieser Vorschrift setzt voraus, dass das Gericht nicht das zuständige Gericht bestimmen und ggf den Rechtsstreit verweisen kann (vgl BSG, Beschlüsse vom 25.8.2003, B 7 SF 14/03 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 1, und vom 11.3.2005, B 13 SF 1/05 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 5) . Damit ist eine Zuständigkeitsbestimmung nicht statthaft, wenn sich die Zuständigkeit eines SG aus § 57 SGG, sonstigen Vorschriften des SGG (vgl §§ 57a, 57b SGG) oder anderen die Zuständigkeit regelnden Normen (zB § 369 SGB III, § 584 ZPO) entnehmen lässt.
§ 58 Abs 1 Nr 5 SGG setzt für die Zuständigkeitsbestimmung nach seinem Wortlaut zwar allein voraus, dass eine örtliche Zuständigkeit nach § 57 SGG nicht gegeben ist. Die Regelung des § 58 Abs 1 Nr 5 SGG ist jedoch einschränkend dahin auszulegen, dass eine Zuständigkeitsbestimmung nach dieser Vorschrift nur dann zulässig ist, wenn sich die örtliche Zuständigkeit weder aus § 57 SGG noch aus anderen die Zuständigkeit regelnden Vorschriften ergibt. Die Vorschrift soll ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Gerichts eröffnen, wenn sich die örtliche Zuständigkeit nicht durch Anwendung der entsprechenden gesetzlichen Regelungen ermitteln lässt. Dass § 58 Abs 1 Nr 5 SGG lediglich § 57 SGG nennt, beruht darauf, dass in späteren Gesetzgebungsverfahren trotz neuer Zuständigkeitsregelungen diese Vorschrift nicht angepasst wurde und trotz der ergänzenden Zuständigkeitsregelungen § 57 SGG subsidiär anwendbar sein kann. Einer Zuständigkeitsbestimmung bedarf es jedoch nur, wenn sich die örtliche Zuständigkeit weder in Anwendung der §§ 57, 57a, 57b SGG noch sonstiger Vorschriften ergibt und das SG das zuständige Gericht damit nicht bestimmen kann (vgl BSG, Beschluss vom 25.8.2003, B 7 SF 14/03 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 1; vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 58 RdNr 2g) . Diese Voraussetzungen für die Zuständigkeitsbestimmung liegen hier nicht vor.
Zutreffend geht das SG davon aus, dass für die örtliche Zuständigkeit nicht auf den Wohnort der Abwesenheitspflegerin abzustellen ist, weil diese lediglich als gesetzliche Vertreterin im Namen der Klägerin einen dieser zustehenden Anspruch geltend macht (vgl für die Nachlasspflegschaft auch Beschluss des Senats vom 21.8.2008, B 12 SF 7/08 S) , und dass sich die Zuständigkeit nicht aus den Regelungen des § 57 SGG ergibt. Es fehlt im SGG eine ausdrückliche Regelung, welches Gericht örtlich zuständig ist, wenn der gegenwärtige Beschäftigungsort, Wohnsitz oder Aufenthaltsort der als Versicherte klagenden Partei, auf die für die Zuständigkeit abzustellen ist, unbekannt sind. Dagegen enthalten andere das Gerichtsverfahren regelnde Gesetze auch für diesen Fall entsprechende Vorschriften (vgl § 52 Nr 5 der Verwaltungsgerichtsordnung zur durch den letzten Wohnsitz oder Aufenthalt bestimmten örtlichen Zuständigkeit, § 16 ZPO zum allgemeinen Gerichtsstand einer Person an ihrem letzten Wohnsitz bei unbekanntem Wohnsitz und Aufenthalt, vgl auch § 46 Abs 2 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) iVm § 16 ZPO, § 48 Abs 1a ArbGG sowie § 38 Finanzgerichtsordnung). Für den hier vorliegenden Fall, dass ein Beschäftigungsort, der Wohnsitz und auch der Aufenthaltsort der als Versicherte Klagenden unbekannt sind, ist gemäß § 202 SGG in entsprechender Anwendung des § 16 ZPO auf den letzten Wohnsitz der Klägerin abzustellen. Nach § 202 SGG gelten die Vorschriften der ZPO subsidiär für das Gerichtsverfahren und sind heranzuziehen, wenn eine abschließende Regelung im SGG fehlt und die Lücke nicht durch Heranziehung anderer Vorschriften des SGG geschlossen werden kann. Dabei kann auch eine modifizierende Anwendung notwendig sein (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 202 RdNr 2). Nach § 16 ZPO wird der allgemeine Gerichtsstand einer Person, die keinen Wohnsitz hat, durch den Aufenthaltsort im Inland und, wenn ein solcher nicht bekannt ist, durch den letzten Wohnort bestimmt, sodass gemäß § 12 ZPO das für den letzten Wohnsitz zuständige Gericht zur Entscheidung berufen ist. Da im sozialgerichtlichen Verfahren nach den Regelungen des § 57 SGG grundsätzlich bei der Klage eines Versicherten auf dessen Wohnsitz oder in Ermangelung dessen auf seinen Aufenthaltsort abgestellt wird, ist § 16 ZPO insoweit entsprechend anzuwenden, als auf den letzten Wohnsitz des klagenden Versicherten abzustellen ist, wenn der gegenwärtige Wohnsitz und Aufenthaltsort nicht bekannt sind.
Da das SG Fulda damit das zuständige Gericht bestimmen und den Rechtsstreit an dieses Gericht verweisen kann, liegen die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung durch das BSG nicht vor.
Fundstellen
Haufe-Index 2163736 |
NJW 2010, 1165 |
FA 2009, 320 |
AnwBl 2009, 258 |