Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist. nachgewiesene Erkrankung. Verfahrensfehler. Verstoß gegen § 60 SGG iVm § 47 Abs 1 ZPO. Teilurteil vor Erledigung eines Ablehnungsgesuchs. gesetzliche Voraussetzung eines Teilurteils
Orientierungssatz
1. Eine Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist ist grundsätzlich zulässig.
2. Zum Vorliegen eines Verfahrensfehlers (hier: Verstoß gegen § 60 Abs 1 SGG iVm § 47 Abs 1 ZPO).
3. Zum Nichtvorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eines Teilurteils gem § 202 SGG iVm § 301 Abs 1 ZPO (hier: Streit um Anerkennung von Unfallfolgen aufgrund eines Arbeitsunfalls und die Gewährung einer Verletztenrente wegen dieser Unfallfolgen).
Normenkette
SGG §§ 67, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 60 Abs. 1; ZPO § 47 Abs. 1; SGG § 202; ZPO § 301 Abs. 1
Verfahrensgang
Sächsisches LSG (Urteil vom 05.03.2008; Aktenzeichen L 1 U 190/99 LW) |
SG Dresden (Entscheidung vom 30.09.1999; Aktenzeichen S 5 U 377/97 LW) |
Tatbestand
Umstritten ist die Anerkennung von Unfallfolgen und die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund eines von der Klägerin am 1. August 1973 erlittenen Arbeitsunfalls, wegen dessen Folgen sie im Jahr 1995 bei der beklagten Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft die Gewährung einer Verletztenrente beantragte, die jedoch abgelehnt wurde (Bescheid vom 24. Oktober 1996, Widerspruchsbescheid vom 12. November 1997). Das angerufene Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 30. September 1999). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die mündliche Verhandlung vom 12. Dezember 2007 durch "Teilurteil" die Klage abgewiesen, soweit die Klägerin beantrage festzustellen, dass sie organische Verletzungen im Bereich der Halswirbelsäule und daraus resultierende Folgen erlitten habe, und die weitergehenden Anträge auf Feststellung weiterer Unfallfolgen und auf Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Verletztenrente sowie die Kostenentscheidung dem Schlussurteil vorbehalten. Am 20. Dezember 2007 hat es in einer Nachberatung die Revision gegen das "Teilurteil" zugelassen.
Den Antrag der Klägerin, ihr für das Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) gegen dieses "Teilurteil" Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, hat der Senat mit Beschluss vom 30. Juni 2008 - B 2 U 1/08 RH - (vorgesehen für SozR 4) abgelehnt. Die beabsichtigte Revision habe keine Aussicht auf Erfolg, weil die Revision unzulässig sei.
Auf ihren Antrag hin hat ihr der Senat durch Beschluss vom 29. September 2008 - B 2 U 10/08 BH - Prozesskostenhilfe für ein Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das "Teilurteil" bewilligt und ihr durch Beschluss vom 23. Dezember 2008 ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten beigeordnet.
Schon vorher hat das LSG durch "Schlussurteil" vom 5. März 2008 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, die weitergehende Klage abgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Auf Antrag der Klägerin hat der Senat ihr mit Beschluss vom 29. Juli 2008 - B 2 U 7/08 BH - Prozesskostenhilfe für ein Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gegen dieses Urteil bewilligt und ihr mit Beschluss vom 26. August 2008 ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten beigeordnet.
Mit einem Telefax vom 27. Oktober 2008, an demselben Tag beim BSG eingegangen, hat die Klägerin gegen beide Urteile Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und diese auch gemeinsam begründet. Außerdem beantragt sie Wiedereinsetzung, soweit Fristen versäumt worden seien.
Entscheidungsgründe
Die zwei Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zwischen den Beteiligten mit den Aktenzeichen - B 2 U 284/08 B - gegen das "Schlussurteil" des LSG vom 5. März 2008 und - B 2 U 285/08 B - gegen das "Teilurteil" des LSG vom 12. Dezember 2007 sind zur gemeinsamen Entscheidung zu verbinden. Nach § 165, § 153 Abs 1, § 113 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) können mehrere Rechtsstreitigkeiten zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden werden, wenn die Ansprüche die den Gegenstand dieser Rechtsstreitigkeiten bilden, in Zusammenhang stehen oder von vornherein in einer Klage hätten geltend gemacht werden können. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das "Teilurteil" die Klage hinsichtlich der Anerkennung von Unfallfolgen im Bereich der Halswirbelsäule abweist und in dem "Schlussurteil" neben der Abweisung der Klage im Übrigen nochmals in der Sache über das Vorliegen von Unfallfolgen an der Halswirbelsäule - das "Teilurteil" bestätigend - entschieden wird.
Die Beschwerden sind zulässig, sie sind insbesondere fristgerecht erhoben und begründet worden (vgl § 160a Abs 1, 2 SGG) . Für die Beschwerde gegen das "Teilurteil" folgt dies schon daraus, dass es der Klägerin am 12. Februar 2008 zugestellt wurde, seine Rechtsmittelbelehrung jedoch falsch war, weil sie über die Zulässigkeit einer Revision belehrte, die jedoch ausweislich des Beschlusses des Senats vom 30. Juni 2008 - B 2 U 1/08 RH - nicht gegeben war. Mit ihrem Schreiben vom 27. Oktober 2008 hat die Klägerin jedenfalls die Jahresfrist nach § 66 Abs 2 SGG gewahrt.
Auch hinsichtlich der Beschwerde gegen das "Schlussurteil", das der Klägerin am 16. April 2008 zugestellt wurde, wurden die Fristen durch das Schreiben vom 27. Oktober 2008 gewahrt. Denn die Klägerin hat am 15. Mai 2008 fristgerecht für ein Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gegen dieses Urteil Prozesskostenhilfe beantragt, die ihr mit Beschluss vom 29. Juli 2008 - B 2 U 7/08 BH - bewilligt wurde. Mit Beschluss vom 26. August 2008, zugestellt am 5. September 2008, wurde ihr ihr jetziger Prozessbevollmächtigter beigeordnet, so dass ihr im Wege der Wiedereinsetzung nach § 67 SGG eine Frist bis Montag, den 6. Oktober 2008 zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde einzuräumen war.
Innerhalb dieser Frist hat die Klägerin keine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Schlussurteil eingelegt. Die Beschwerde ist gleichwohl durch das Schreiben der Klägerin vom 27. Oktober 2008 fristgerecht eingelegt worden, weil sie in diesem einen begründeten Wiedereinsetzungsantrag für den Fall der Fristversäumnis gestellt hat. Eine Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist ist grundsätzlich zulässig (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 67 RdNr 11) . Die Voraussetzungen sind vorliegend auch erfüllt, weil die Klägerin erkrankungsbedingt von Anfang September bis zum 20. Oktober 2008 gehindert war, die notwendige Rücksprache mit ihrem Prozessbevollmächtigten, der die Verfahren erst übernommen hatte, durchzuführen. Die Erkrankung ergibt sich aus der von ihr vorgelegten eidesstattlichen Versicherung sowie Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen der sie behandelnden Ärzte. Die Erforderlichkeit einer persönlichen Erörterung zwischen der Klägerin und ihrem Prozessbevollmächtigten ist angesichts der Komplexität und langen Dauer des Verfahrens nicht von der Hand zu weisen.
Die Beschwerden sind auch begründet.
Das "Teilurteil" vom 12. Dezember 2007 beruht auf einem von der Klägerin gerügten Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Nach § 60 Abs 1 SGG iVm § 47 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) darf ein abgelehnter Richter vor Erledigung eines Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vornehmen, die keinen Aufschub dulden. Hiergegen hat das LSG durch sein "Teilurteil" vom 12. Dezember 2007 verstoßen. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2007 an den Präsidenten des LSG, eingegangen dort am 10. Dezember 2007, hat sich die Klägerin gegen den Ablauf ihres Verfahrens gewandt und den Vorsitzenden des für ihren Rechtsstreit zuständigen Senats als befangen abgelehnt. Über diesen Befangenheitsantrag ist vor dem "Teilurteil" vom 12. Dezember 2007 nicht entschieden worden, vielmehr hat der abgelehnte Richter an der Entscheidung mitgewirkt. Gründe, warum das "Teilurteil" keinen Aufschub geduldet haben könnte, sind nicht zu erkennen, zumal das Verfahren schon zu diesem Zeitpunkt rund acht Jahre am LSG anhängig war.
Die Sonderregelung für Ablehnungsgesuche während der Verhandlung (§ 47 Abs 2 ZPO) ist nicht einschlägig, weil der Ablehnungsantrag der Klägerin schon am 10. Dezember 2007 bei dem LSG eingegangen war.
Dieser Verfahrensmangel des "Teilurteils" führt auch zu einem Verfahrensmangel gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG des "Schlussurteils", denn die gesetzlichen Voraussetzungen für ein Teilurteil lagen nicht vor.
Ein Teilurteil nach § 202 SGG iVm § 301 Abs 1 ZPO erfordert entweder, wenn mehrere Ansprüche mit einer Klage geltend gemacht werden, die Entscheidung über einen von ihnen oder die Entscheidung über einen Teil eines einheitlichen Anspruchs, der nach Grund und Höhe streitig ist, wenn zugleich ein Grundurteil über den restlichen Anspruch ergeht. Beide Alternativen sind vorliegend nicht erfüllt. Bei einem Streit um die Anerkennung von Unfallfolgen aufgrund eines Arbeitsunfalls und die Gewährung einer Verletztenrente wegen dieser Unfallfolgen handelt es sich nicht um mehrere Ansprüche, die nebeneinander bestehen, vielmehr ist die Gewährung einer Verletztenrente nach § 56 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) von den zuvor festgestellten Unfallfolgen abhängig. Dementsprechend hat das LSG nach seinem "Teilurteil" auch in seinem "Schlussurteil" noch einmal über die Feststellung von Unfallfolgen im Bereich der Halswirbelsäule der Klägerin entschieden, sich dabei aber an das Teilurteil gebunden gesehen. Dementsprechend kann auch das "Schlussurteil" auf dem für das "Teilurteil" festgestellten Verfahrensmangel beruhen.
Würde nur das "Teilurteil", nicht aber das "Schlussurteil" aufgehoben, wäre unklar, inwieweit über den hinsichtlich der Gewährung einer Verletztenrente nicht teilbaren Streitgegenstand eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt. Über die umstrittenen Unfallfolgen im Bereich der Halswirbelsäule würde einerseits eine rechtskräftige Entscheidung in Gestalt des "Schlussurteils" vorliegen, andererseits müsste darüber noch einmal im wiedereröffneten Berufungsverfahren wegen des aufgehobenen "Teilurteils" entschieden werden. Ein Teilurteil und das auf ihm aufbauende Schlussurteil können jedoch keine unterschiedliche Rechtskraftwirkung entfalten (vgl Vollkommer in Zöller, ZPO, 27. Aufl 2009, § 301 RdNr 12 f mwN) .
Die Entscheidung über die weiteren von der Klägerin sowohl gegen das "Teilurteil" als auch gegen das "Schlussurteil" geltend gemachten Zulassungsgründe kann dahingestellt bleiben.
Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtenen Urteile wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen