Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Besetzungsrüge. gesetzlicher Richter. Befangenheit. Ablehnungsantrag. Willkür
Leitsatz (amtlich)
Die Verfahrensrüge, das Berufungsgericht sei fehlerhaft besetzt gewesen, weil ein Ablehnungsantrag gegen einen mitwirkenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit zu Unrecht abgewiesen worden sei, kann im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde nur auf die Behauptung gestützt werden, die Behandlung des Ablehnungsantrages beruhe auf willkürlichen bzw manipulativen Erwägungen (Fortführung von BSG vom 10.9.1998 - B 7 AL 36/98 R = DBIR 4498a, SonstVerfR/§ 551 ZPO und Fortführung von BSG vom 28.8.2002 - B 11 AL 49/02 B).
Orientierungssatz
Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 12.2.2004 - 1 BvR 1742/03).
Normenkette
SGG § 60 Abs. 1, §§ 160a, 177, 202; ZPO §§ 547, 557 Abs. 2; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
Gründe
Prozesskostenhilfe ist nicht zu bewilligen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Erfolgsaussicht hat (§ 73a Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ iVm § 114 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫).
Die Beschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch die §§ 160 Abs 2 und 160a Abs 2 Satz 3 SGG festgelegten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb nach § 169 iVm § 160a Abs 4 Satz 2 SGG ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen.
Der Kläger macht als Zulassungsgrund Verfahrensfehler geltend. Ein Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) ist aber nur dann formgerecht "bezeichnet", wenn die ihn begründenden Tatsachen im Einzelnen angegeben sind und - in sich verständlich - den behaupteten Verfahrensfehler ergeben (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14); außerdem ist darzulegen, dass und warum die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann. Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung vom 30. Mai 2003 nicht gerecht.
Der Kläger rügt, ihm seien - als Rechtsbeistand und Mitglied der Rechtsanwaltskammer K. die Gerichts- und Verwaltungsakten nicht in seine Kanzlei zur Einsichtnahme übersandt worden, obwohl er wegen seiner Erkrankung (Multiple Sklerose) auf diese Form der Akteneinsicht angewiesen sei und dies dem Landessozialgericht (LSG) mitgeteilt habe. Die angebotene Möglichkeit der Einsichtnahme in der Geschäftsstelle des LSG oder des Sozialgerichts Aachen habe er krankheitsbedingt nicht wahrnehmen können. Dadurch habe er nicht nachprüfen und vortragen können, ob der Beklagten alle Schriftsätze, insbesondere aber der Antragsschriftsatz vom 24. (richtig: 20.) Oktober 2001, entgegen ihrem Vorbringen nicht doch zugegangen seien, und er deshalb den Vorwurf der pflichtwidrigen Untätigkeit der Beklagten zu Recht erhoben habe. Dies komme einer Einschränkung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gleich (§ 62 SGG).
Es kann offen bleiben, ob und unter welchen näheren Voraussetzungen auch einem selbst als Kläger auftretenden Rechtsbeistand ein Anspruch auf Übersendung der Gerichts- und Verwaltungsakten in seine Kanzlei zusteht; dem Wortlaut des die Akteneinsicht im sozialgerichtlichen Verfahren regelnden § 120 SGG ist dies nicht zu entnehmen. Der geltend gemachte Verfahrensfehler ist nämlich schon deshalb nicht formgerecht "bezeichnet", weil nicht dargelegt worden ist, welche Tatsachen oder Rechtsausführungen im Falle der Übersendung der Akten in die Kanzlei anschließend vorgetragen worden wären und dass die Untätigkeitsklage in diesem Fall erfolgreich gewesen wäre (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 160a RdNr 16e mwN). Nach der Einsichtnahme in die Gerichts- und Verwaltungsakten durch seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten wäre der Kläger zu einem solchen Vortrag auch in der Lage gewesen.
Soweit der Kläger darüber hinaus beanstandet, sein Befangenheitsantrag vom 6. Dezember 2002 gegen den Vorsitzenden Richter Dr. S. sei durch den Beschluss des LSG vom 11. Dezember 2002 zu Unrecht abgelehnt worden mit der Folge, dass dieser Richter an der angefochtenen Entscheidung nicht mehr hätte beteiligt werden dürfen, bezeichnet er auch mit diesem Vorbringen einen Verfahrensmangel nicht hinreichend.
Nach der Vorschrift des § 557 Abs 2 ZPO, die mit § 548 ZPO in der bis zum 31. Dezember 2001 gültigen Fassung übereinstimmt und gemäß § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist, unterliegen die dem Endurteil vorausgehenden Entscheidungen der Beurteilung des Revisionsgerichts dann nicht, wenn sie ihrerseits unanfechtbar sind. Diese Einschränkung der Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts ist bei Beschlüssen, durch die ein Ablehnungsgesuch gemäß § 60 Abs 1 SGG iVm § 46 Abs 2 ZPO zurückgewiesen wird, immer dann gegeben, wenn sie - wie hier - von einem LSG erlassen werden und deshalb gemäß § 177 SGG der Anfechtung mit der Beschwerde entzogen sind (vgl bereits BSG SozR SGG § 60 Nr 4). Dies hat zur Folge, dass die Zurückweisung eines Befangenheitsantrags grundsätzlich auch nicht als Verfahrensfehler iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend gemacht werden kann (BSG SozR 1500 § 160 Nr 57 S 60 f; BSG, Beschluss vom 28. August 2002 - B 11 AL 49/02 B - juris; BGHZ 85, 145, 148 und 95, 302, 306).
Eine im Zusammenhang mit einer unanfechtbaren Vorentscheidung erhobene Rüge eines Verfahrensmangels ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn sie sich nicht gegen die Richtigkeit der Vorentscheidung als solche wendet, sondern einen Mangel betrifft, der als Folge der beanstandeten Vorentscheidung sich auf das angefochtene Urteil selbst auswirkt (BSG SozR 1500 § 160 Nr 57 S 61 unter Hinweis auf BVerwG DÖV 1973, 342, 343 sowie BVerwG Buchholz 303 § 548 Nr 1; vgl auch BFH, Beschluss vom 13. Januar 2003 - III B 51/02 - juris). Bei der Zurückweisung eines Befangenheitsantrags gegen einen Richter kann ein sich auf das angefochtene Urteil selbst auswirkender Mangel nur dann vorliegen, wenn die Behandlung eines Ablehnungsantrags so fehlerhaft ist, dass durch die weitere Mitwirkung des abgelehnten Richters das Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter nach Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) verletzt ist und das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung deshalb unrichtig besetzt war (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO; zu einem solchen Sachverhalt vgl BSG, Urteil vom 10. September 1998 - B 7 AL 36/98 R - DBlR 4498a, SonstVerfR/§ 551 ZPO; BVerwG, Beschluss vom 9. November 2001 - 6 B 59/01 - Buchholz 310 § 132 Abs 2 Ziff 3 VwGO Nr 29 mwN; BFH, Beschluss vom 13. Januar 2003 - III B 51/02 - juris).
Art 101 Abs 1 Satz 2 GG greift nur bei willkürlichen Verstößen gegen Verfahrensvorschriften ein. Erforderlich ist deshalb, dass willkürliche oder manipulative Erwägungen für die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs bestimmend gewesen sind (BSG, Urteil vom 10. September 1998, aaO; vgl auch BVerwG, Urteil vom 10. November 1999 - 6 C 30.98 - BVerwGE 110, 40, 46 mwN). Die lediglich unrichtige Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch führt somit noch nicht zur vorschriftswidrigen Besetzung des Gerichts. Willkürlich ist die Entscheidung eines Gerichts nur dann, wenn sie sich unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht zu rechtfertigen ist (BVerfGE 29, 45, 49 mwN).
Eine mit der Nichtzulassungsbeschwerde erhobene Besetzungsrüge hat nach alledem nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sich dem Beschwerdevorbringen entnehmen lässt, dass der Beschluss über die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs nicht nur fehlerhaft, sondern greifbar gesetzwidrig und damit willkürlich ist. Eine greifbar gesetzwidrige, zu einer Verletzung des gesetzlichen Richters führende Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs durch den Beschluss des LSG vom 11. Dezember 2002 lässt sich der Darstellung des Klägers jedoch nicht entnehmen. Der Vortrag des Klägers, sein Befangenheitsantrag habe sich im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Richter es zum einen abgelehnt hatte, ihm die beantragte Akteneinsicht in der beantragten Form zu ermöglichen, und dieser zum anderen nicht bereit war, das Verfahren wegen seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung auszusetzen, befasst sich allein mit der Begründung seines Ablehnungsgesuchs, enthält aber keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass die Entscheidung selbst schlechterdings unverständlich, unvertretbar und damit willkürlich gewesen sein könnte.
Die zusätzlichen persönlichen Ausführungen des Klägers vom 4. Juni 2003 konnten im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nicht berücksichtigt werden, weil er nicht zum Kreis der beim Bundessozialgericht zugelassenen Prozessbevollmächtigten gehört (§ 166 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 976052 |
FA 2004, 32 |
NZS 2004, 222 |
SozR 4-1500 § 160a, Nr. 1 |