Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung des rechtlichen Gehörs

 

Orientierungssatz

Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gedanken zuvor mit den Beteiligten zu erörtern.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs 2 Nr 3, § 160a Abs 2 S 3, §§ 62, 128 Abs 2; GG Art 103

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 14.06.1989; Aktenzeichen L 3 U 107/88)

 

Gründe

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Hinterbliebenenversorgung. Der verstorbene Ehemann der Klägerin (Versicherter) erlitt in der Nacht vom 22./23. Mai 1986 einen Unfall, an dessen Folgen er später verstarb. Er war in der Gemeinde seines Wohnortes ehrenamtlich als Erster Beigeordneter tätig und vertrat zur Zeit des Unfalls den erkrankten Ortsbürgermeister R.    . Der Beklagte lehnte den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente mit Bescheid vom 26. Januar 1988 ab. Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten zur Gewährung von Hinterbliebenenrente verurteilt (Urteil vom 7. Juli 1988). Die hiergegen eingelegte Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 14. Juni 1989). Es hat festgestellt, daß der Versicherte am 22./23. Mai 1986 im Sporthotel W.        in R.     ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Reitervereins A.          , den Zeugen S.      , geführt habe, dessen Thema die anstehende Sperrung von Reitwegen und die Möglichkeit, dies zu verhindern, gewesen sei. Diese Anhörung des Zeugen S.       durch den Versicherten als Vertreter des Ortsbürgermeisters habe somit im Interesse der Gemeinde gestanden; es habe unmittelbar gemeindliche Belange betroffen. Zugleich habe dieses Gespräch der Vorbereitung einer etwaigen Beschlußfassung des Gemeinderats gedient und damit in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang mit seiner ehrenamtlichen Tätigkeit gestanden.

Mit seiner hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Beklagte Verfahrensmängel. Außerdem sei das LSG von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen.

Die Beschwerde ist unbegründet.

1. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist die

Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungspflicht des LSG) kann der Verfahrensmangel nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag stützt, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Das ist dann der Fall, wenn das LSG sich aus seiner Sicht hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

Das LSG hätte sich nicht gedrängt fühlen müssen, den Ortsbürgermeister R. erneut als Zeugen zu vernehmen. Das Berufungsgericht hat im wesentlichen seine Entscheidung darauf gestützt, daß zur Zeit des Unfalls des Versicherten die Frage der "Sperrung der Reitwege" Diskussionspunkt zwischen der Gemeinde (vertreten ua durch den Ortsbürgermeister und den Versicherten als seinen Stellvertreter) und dem Reiterverein (vertreten durch den Vorsitzenden S.      ) gewesen sei und daß das Gespräch zwischen dem Versicherten und dem Vorsitzenden S.       überwiegend diesen Themenkreis und damit unmittelbar gemeindliche Belange betroffen habe. Die von der Beklagten hervorgehobenen Beweisthemen (Erörterung der Frage einer Sperrung von Reitwegen im Gemeinderat; konkreter Auftrag vom Ortsbürgermeister R.     an den Versicherten zu einem Gespräch mit dem Zeugen S.      ; tatsächlich erfolgte Sperrung von Reitwegen) war aus der sachlich-rechtlichen Sicht des LSG nicht entscheidungserheblich. Auf etwaige Widersprüchlichkeiten in der Aussage des Zeugen R.    , soweit sie sich aus der Niederschrift des SG vom 18. Mai 1988 überhaupt entnehmen ließen, kommt es damit ebenfalls nicht an.

2. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers hat das LSG auch

seiner Begründungspflicht iS des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG hinreichend genügt. Wie bereits dargelegt, betraf nach den Feststellungen des LSG das Gesprächsthema zwischen dem Versicherten und dem Zeugen S.       am 22./23. Mai 1986 unmittelbar gemeindliche Belange. Zudem hat das LSG der Aussage des Zeugen R.     entnommen, daß Wege durch Reiter beschädigt worden seien und daß deshalb eine Regelung hinsichtlich der Reitwege habe getroffen werden müssen. Es hat ferner den Erklärungen des Zeugen S.       entnommen, daß eine solche Regelung in der Gemeinde angestanden habe. Deshalb habe der Zeuge S.       auch um die Unterredung mit dem Versicherten gebeten. Damit hat das LSG hinreichend begründet, weshalb nach seiner Überzeugung das Thema "Sperrung von Reitwegen" jedenfalls für künftige Beratungen im Gemeinderat anstand.

3. Die ferner vom Beklagten gerügte Verletzung des rechtlichen

Gehörs (§ 62, § 128 Abs 2 SGG, Art 103 des Grundgesetzes -GG-) durch das LSG ist auch nicht begründet. Diese Vorschrift soll zwar verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der die Beteiligten keine Veranlassung hatten, sich zu äußern. Die sich hieraus ergebenden Hinweispflichten des Gerichts beziehen sich jedoch nur auf erhebliche Tatsachen, die dem Betroffenen bislang unbekannt waren, und auf neue rechtliche Gesichtspunkte (s Beschluß des Senats vom 24. Juli 1989 - 2 BU 93/89 -). Solche hat das LSG im vorliegenden Fall auch nach dem Vortrag der Beklagten aber nicht in das Verfahren eingebracht. Es hat lediglich das vorhandene Beweisergebnis, insbesondere die erstinstanzlich durchgeführte ausführliche Beweisaufnahme anders als der Beschwerdeführer gewürdigt und dargelegt, weshalb das Gespräch des Versicherten mit dem Zeugen S.       in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang mit seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Erster Beigeordneter gestanden habe. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gedanken zuvor mit den Beteiligten zu erörtern.

4. Schließlich ist eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG

nicht gegeben.

a) Soweit die Beschwerde rügt, das LSG sei von dem Beschluß

des Senats vom 27. Mai 1989 - 2 RU 4/88 - abgewichen, übersieht sie, daß im vorliegenden Fall der Versicherte nicht wie in der angezogenen Entscheidung lediglich Ratsmitglied war, sondern als Vertreter des erkrankten Ortsbürgermeisters sich um die Belange der Gemeinde und insoweit auch um die Probleme der Reitwege zumindest im Unfallzeitpunkt zu kümmern hatte.

b) Nicht anders verhält es sich mit der geltend gemachten Abweichung

von der Entscheidung des BSG vom 31. Januar 1980 (BSG SozR 2200 § 539 Nr 63). Das LSG hat sich vielmehr ausdrücklich auf diese Entscheidung gestützt (s insbesondere Seite 10 des Urteils), soweit sie für diesen Fall einschlägig war. Gegenstand des Verfahrens über die Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht die Frage, ob das LSG in der Sache richtig entschieden hat (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7). Gerade aber dies macht der Beklagte im Kern zum Gegenstand seiner ausführlichen Beschwerdebegründung. Daran scheitert die Beschwerde.

Die Beschwerde war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649357

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