Leitsatz (amtlich)
Das Vorbringen der Revision, das Berufungsgericht habe gegen das Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers (reformatio in peius) verstoßen, ist keine Rüge im Sinne des SGG § 162 Abs 1 Nr 2. Eine Verletzung des auch für die Sozialgerichtsbarkeit geltenden Grundsatzes des Verbotes der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers verstößt nicht gegen die das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozeßhandlung betreffenden Vorschriften, sondern gegen das das Verfahren selbst nicht berührende materielle Prozeßrecht.
Normenkette
SGG § 123 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 30. Mai 1956 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Die frist- und formgerecht eingelegte und begründete Revision des Beklagten gegen das vorbezeichnete Urteil des Landessozialgerichts (LSG:) Berlin ist - mangels Zulassung durch das Berufungsgericht - nicht statthaft, da die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für die Statthaftigkeit einer nicht zugelassenen Revision nicht gegeben sind.
Mit seinem Vorbringen, das LSG. habe die Vorschriften der §§ 153, 123 SGG verletzt, konnte der Beklagte keinen Erfolg haben. Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Diese Vorschrift gilt nach § 153 Abs. 1 SGG auch für das Berufungsverfahren. Dabei fehlen im Sozialgerichtsgesetz solche Vorschriften, die denen der §§ 536, 559 der Zivilprozeßordnung (ZPO) entsprechen; trotzdem kann aus der für alle Rechtszüge geltenden gemeinsamen Verfahrensvorschrift des § 123 SGG auch für die Sozialgerichtsbarkeit das Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers (reformatio in peius) hergeleitet werden (vgl. BSG. 2 S. 225 [228]). Das Vorbringen des Beklagten, das Berufungsgericht habe gegen dieses Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers verstoßen, ist jedoch keine Rüge, die eine nicht zugelassene Revision statthaft machen kann. Mit ihm wird nicht ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, sondern ein Mangel in der Urteilsfindung gerügt; der geltend gemachte Verstoß betrifft nicht den Gang des Verfahrens, sondern den Inhalt der getroffenen Entscheidung (vgl. Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Auflage, § 308 Anm. I 1 c; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Auflage, S. 320, § 75 I 1). Daran ändert nichts, daß es sich um einen Verstoß gegen eine Vorschrift der Prozeßordnung handelt; denn eine Verletzung des im § 123 SGG niedergelegten Grundsatzes (vgl. auch §§ 308, 536, 559 ZPO) verstößt nicht gegen die das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozeßhandlung betreffenden Vorschriften, sondern gegen das das Verfahren selbst nicht berührende "materielle Prozeßrecht" (RG 110 S. 150 [151]; auch BSG. im SozR. SGG § 192 Bl. Da 2 Nr. 2). Eine Rüge der Verletzung des materiellen Prozeßrechts fällt aber nicht unter die Vorschrift des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
Die aus § 128 Abs. 1 SGG hergeleitete Rüge der mangelhaften Beweiswürdigung durch das LSG. ist ebenfalls unbegründet. Zwar haben, wie der Beklagte zutreffend ausführt, die im Verfahren gehörten ärztlichen Gutachter die durch Schädigungsfolgen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) des Klägers nur auf 20. v.H. geschätzt, und das LSG. hat sich, ohne sich in dieser Hinsicht auf eine ärztliche Beurteilung stützen zu können, dem Urteil des Sozialgerichts angeschlossen und wie dieses eine MdE. um 25. v.H. angenommen. Das aber allein läßt nicht den Schluß zu, daß das Berufungsgericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten habe (vgl. BSG., Beschluß des 10. Senats vom 17.1.1958 - 10 RV 102/ 56, in SozR. SGG § 128 Bl. Da 9 Nr. 25). Denn das LSG. hat sich im vorliegenden Falle mit den von den ärztlichen Gutachtern vorgenommenen Schätzungen der MdE. des Klägers eingehend und ausführlich auseinandergesetzt; es hat unter Berücksichtigung des - nach seiner Ansicht glaubhaften - Vorbringens des Klägers nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung und ohne Verstoß gegen die Denkgesetze angenommen, daß die Bewertung der MdE. mit nur 20 v.H. dem Kläger nicht gerecht wird. Eine Verletzung des § 128 Abs. 1 SGG liegt danach nicht vor; das Berufungsgericht hat nicht ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen übergangen und seine eigene Auffassung an deren Stelle gesetzt; damit kann die vom Beklagten in Bezug genommene Entscheidung des Bundessozialgerichts in SozR. SGG § 162 Bl. Da 5 Nr. 25 nicht herangezogen werden. Deshalb kann auch kein Verstoß gegen die Vorschrift des § 103 SGG daraus hergeleitet werden, daß das LSG. zur Frage der Höhe der beim Kläger bestehenden MdE. nicht noch ein weiteres Gutachten (Obergutachten) eingeholt hat.
Die Rüge, das Berufungsgericht habe bei Beurteilung der Zusammenhangsfrage im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG das Gesetz verletzt, geht ebenfalls fehl. Denn eine Entscheidung des LSG. im Sinne dieser Vorschrift, die geeignet wäre, eine nicht zulässige Revision statthaft zu machen, liegt nicht vor. Wenn der Beklagte glaubt, in bezug auf die vom LSG. getroffenen tatsächlichen Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht zu haben, so kann ihm darin nicht gefolgt werden; denn sein gesamtes Vorbringen zur Statthaftigkeit der Revision besteht - ohne einen Angriff auf die tatsächlichen Feststellungen - in rechtlichen Erwägungen über die nach seiner Ansicht vom LSG. zu Unrecht vorgenommene Schlechterstellung sowie über die von ihm gerügte mangelhafte Beweiswürdigung und Unterlassung der Einholung eines weiteren Gutachtens. Das Bundessozialgericht ist deshalb an die tatsächlichen Feststellungen des LSG. gebunden (§ 163 SGG).
Danach ist die Revision des Beklagten nicht statthaft; sie war nach der Vorschrift des § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen