Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Begründung. Divergenz. Aufzeigen. Entgeltpunkte. Kürzung. Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn diese eine Rechtsfrage aufwirft, die – über den Einzelfall hinaus – aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist.

2. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine derartige Klärung erwarten lässt.

3. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin folgendes aufzeigen: 1. eine konkrete Rechtsfrage, 2. ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, 3. ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie 4. die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sogenannte Breitenwirkung).

4. Vorlagebeschlüsse des Bundessozialgerichts über Vorlagen an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG enthalten – jedenfalls was die verfassungsrechtlichen Fragen der Vorlageentscheidung betrifft – keine tragenden Rechtssätze, sondern es wird dem Bundesverfassungsgericht nur die Frage vorgelegt, ob ein Bundesgesetz mit dem GG vereinbar ist.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 2, § 160a Abs. 2 S. 3; GG Art. 100 Abs. 1; FRG § 22 Abs. 4

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 23.11.2000; Aktenzeichen L 8 AL 50/97)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. November 2000 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

In seinem Urteil vom 23. November 2000 hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) einen Anspruch des Klägers auf höhere Altersrente im wesentlichen mit folgender Begründung verneint: Die Kürzung der Entgeltpunkte des aus Rumänien eingereisten Klägers, der Inhaber des Bundesvertriebenenausweises A sei, auf 60 vH nach § 22 Abs 4 des Fremdrentengesetzes (FRG) in der ab 7. Mai 1996 geltenden Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz – WFG) vom 25. September 1996 sei zu Recht erfolgt. Ein Anwendungsausschluß dieser Kürzungsbestimmungen komme nur in Betracht, soweit die Rente vor dem 1. Oktober 1996 beginne, was hier nicht der Fall sei. Der Berufungssenat schließe sich nicht der Auffassung des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) in dessen Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom 16. Dezember 1999 (B 4 RA 49/98 R) an, der diese Kürzungsvorschriften als verfassungswidrig angesehen habe. Es liege weder ein Verstoß gegen Art 14 des Grundgesetzes (GG) noch gegen Art 3 GG vor. Der Berufungssenat folge der Auffassung des 13. Senats des BSG in dessen Urteil vom 9. September 1998 (SozR 3-5050 § 22 Nr 6), der die Kürzung der Entgeltpunkte um 30 vH (Vervielfältigung mit dem Faktor 0,7), die bereits durch das Renten-Überleitungsgesetz vom 25. Juli 1991 eingeführt worden sei, als verfassungsmäßig angesehen habe. Entsprechendes gelte auch hinsichtlich der Vorschriften, die eine Berechnung der Entgeltpunkte mit dem Faktor 0,6 vorschrieben. Im Gegensatz zur Auffassung des Sozialgerichts (SG) lägen die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht vor. Dieser scheitere an der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung gezogenen Schranke, daß er den Leistungsträger nicht zu einer Gesetz und Recht widersprechenden Handlung verpflichten dürfe.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt. Daraufhin ist den Beteiligten seitens des Senats folgender Vergleichsvorschlag unterbreitet worden:

  1. „Die Beklagte erklärt sich bereit, für den Fall, daß das Bundesverfassungsgericht aufgrund der anhängigen Verfahren – 1 BvL 9/00, 1 BvL 11/00, 1 BvL 12/00 und 1 BvL 5/01 – die einschlägigen Regelungen des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes (WFG) vom 25. September 1996 für verfassungswidrig erklärt, unter Aufhebung des Bescheides vom 21. März 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 1997 und des Bescheides vom 22. April 1998 dem Kläger einen neuen Bescheid hinsichtlich der Höhe der Regelaltersrente ab 1. Juni 1998 zu erteilen.
  2. Dabei wird die Beklagte von einem Überprüfungsantrag des Klägers vom 15. Februar 2001 ausgehen.
  3. Jeder Beteiligte trägt seine Kosten selbst.
  4. Die Beteiligten sind sich einig, daß damit der Rechtsstreit in vollem Umfang erledigt ist.”

Die Beklagte hat dem Vergleichsvorschlag zugestimmt, der Kläger nicht. Er beruft sich zur Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde auf Divergenz (Abweichung) und macht grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, da keiner der in § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

Zur formgerechten Rüge eines Zulassungsgrundes der Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist in der Beschwerdebegründung die Entscheidung, von der das Urteil des LSG abweichen soll, zumindest so zu bezeichnen, daß sie ohne Schwierigkeiten auffindbar ist. Ferner ist deutlich zu machen, worin eine Abweichung zu sehen sein soll. Der Beschwerdeführer muß darlegen, zu welcher konkreten Rechtsfrage eine das Berufungsurteil tragende Abweichung in dessen rechtlichen Ausführungen enthalten sein soll. Er muß einen abstrakten Rechtssatz aus dem vorinstanzlichen Urteil und einen abstrakten Rechtssatz aus der höchstrichterlichen Entscheidung so bezeichnen, daß die Divergenz erkennbar wird. Es reicht hingegen nicht aus, auf eine bestimmte höchstrichterliche Entscheidung mit der Behauptung hinzuweisen, das angegriffene Urteil weiche hiervon ab. Schließlich ist darzulegen, daß die berufungsgerichtliche Entscheidung auf der gerügten Divergenz beruhe (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29). Diesen Begründungserfordernissen ist hier nicht hinreichend Rechnung getragen worden.

Der Kläger hat bereits nicht aufgezeigt, welchen abstrakten entscheidungserheblichen Rechtssatz das BSG aufgestellt hat, von dem das LSG in seiner Entscheidung abgewichen sein soll. Der Hinweis des Klägers auf den og Vorlagebeschluß des 4. Senats des BSG vom 16. Dezember 1999 genügt nicht den Anforderungen an das Aufzeigen einer Divergenz. Beschlüsse über Vorlagen an das BVerfG nach Art 100 Abs 1 GG enthalten – jedenfalls was die verfassungsrechtlichen Fragen der Vorlageentscheidung betrifft – keine tragenden Rechtssätze, sondern es wird dem BVerfG nur die Frage vorgelegt, ob ein Bundesgesetz mit dem GG vereinbar ist (vgl BSG, Beschluß vom 5. September 2000 – B 4 RA 28/00 B; BSG, Beschluß vom 26. Juni 1996 – 8 BKn 18/95; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 161).

Die vom Kläger ebenfalls geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn diese eine Rechtsfrage aufwirft, die – über den Einzelfall hinaus – aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muß daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Fragen sich stellen, daß diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und daß das angestrebte Revisionsverfahren eine derartige Klärung erwarten läßt (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65). Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muß ein Beschwerdeführer mithin folgendes aufzeigen: 1. eine konkrete Rechtsfrage, 2. ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, 3. ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie 4. die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sogenannte Breitenwirkung). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.

Der Kläger macht bezüglich der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Kürzung der Entgeltpunkte nicht ausdrücklich grundsätzliche Bedeutung geltend. Doch könnte, soweit er auf den og Vorlagebeschluß des 4. Senats des BSG vom 16. Dezember 1999 hinweist, dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen entnommen werden, daß er insoweit grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache rügen wollte (vgl auch insoweit BSG, Beschluß vom 5. September 2000 – B 4 RA 28/00 B; BSG, Beschluß vom 6. Oktober 1977 – 9 BV 270/77). Allerdings hat er keine entsprechende konkrete Rechtsfrage aufgeworfen. Selbst wenn man aufgrund seines Hinweises auf den og Vorlagebeschluß die Rechtsfrage als aufgezeigt ansähe, ob die Kürzung von Entgeltpunkten um 40 vH gemäß § 22 Abs 4 FRG idF des WFG für den betroffenen Personenkreis verfassungsgemäß sei, so fehlen Darlegungen zur (konkreten) „Klärungsfähigkeit” dieser Frage. Der Kläger hat insoweit nur vorgetragen, nach dem Urteil des SG sei ihm die Rente bei Annahme eines Verstoßes des § 22 Abs 4 FRG gegen Art 14 GG ungekürzt zu gewähren. Damit hat er aber nicht – wie erforderlich – den nach seiner Auffassung vom Revisionsgericht einzuschlagenden Weg der Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgezeigt, der eine Entscheidung über die ggfs als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Rechtsfrage notwendig macht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 31). Insoweit war insbesondere der Hinweis auf das zusprechende Urteil des SG nicht ausreichend, da dieses den Anspruch des Klägers allein aus dem Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs begründet hat.

Auch hinsichtlich der weiter geltenden gemachten grundsätzlichen Bedeutung in bezug auf das vom Berufungsgericht verneinte Vorliegen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat der Kläger keine konkrete Rechtsfrage aufgeworfen. Er verweist in diesem Zusammenhang nur auf vom LSG aufgezeigte Probleme zum Umfang des Herstellungsanspruchs und legt seine Auffassung dar, daß das Berufungsgericht zu Unrecht das Fehlverhalten der Beklagten als nicht so schwerwiegend angesehen und damit die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt habe. Angesichts der Komplexität der Voraussetzungen des Herstellungsanspruchs hätte der Kläger auf jeden Fall näher präzisieren müssen, welche Rechtsfrage sich hier konkret stellt. Es ist nicht Aufgabe des BSG, sich anhand der Ausführungen des Beschwerdeführers selbst eine Rechtsfrage herauszuarbeiten, der möglicherweise eine grundsätzliche Bedeutung zugesprochen werden könnte.

Selbst wenn man insoweit von der Bezeichnung einer konkreten Rechtsfrage ausginge, fehlt es an ausreichenden Ausführungen zu deren (abstrakter) Klärungsbedürftigkeit. Klärungsbedürftig ist eine Sache nicht, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 4, 11). Zum anderen ist auch eine Rechtsfrage, die das BVerfG oder das BSG bereits entschieden hat, nicht mehr klärungsbedürftig, es sei denn, sie wäre es aus besonderen Gründen geblieben oder erneut geworden; das muß substantiiert vorgetragen werden (vgl BSG SozR 1500 § 106a Nr 6, 13, 65). Das ist hier nicht ansatzweise geschehen. Der Kläger behauptet nicht einmal, daß es einschlägige Rechtsprechung zum Herstellungsanspruch nicht gebe (vgl zur umfangreichen Rechtsprechung zB BSG SozR 3-2600 § 58 Nr 2 mwN; Urteil des erkennenden Senats vom 1. Februar 2001 – B 13 RJ 1/00 R, Umdruck S 11).

Im Kern beschränkt sich das Beschwerdevorbringen auf den Vorwurf, das LSG habe den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht richtig angewendet. Damit hat der Kläger aber keinen Zulassungsgrund dargelegt, denn zulässiger Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht, ob das Berufungsgericht in der Sache richtig entschieden hat (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt in entsprechender Anwendung des § 169 Satz 3 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 1, 5; BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 30; vgl hierzu auch Art 1 Nr 54 Buchst a und Art 17 Abs 2 des 6. SGGÄndG vom 17. August 2001 – BGBl I 2144, 2150, 2158).

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175293

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