Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung. Berücksichtigung von im EU-Ausland zurückgelegten Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung

 

Orientierungssatz

Zur Zuständigkeit eines Mitgliedstaats der EU für die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten nach Art 44 Abs 2 EGV 987/2009.

 

Normenkette

SGB VI § 56 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Alt. 2; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 3 Buchst. e; EGV 987/2009 Art. 44 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Sächsisches LSG (Urteil vom 13.12.2022; Aktenzeichen L 5 R 362/21)

SG Chemnitz (Gerichtsbescheid vom 12.07.2021; Aktenzeichen S 7 R 901/20)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 13. Dezember 2022 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt eine Erwerbsminderungsrente. Sie ist 1959 in den Niederlanden geboren und niederländische Staatsangehörige. Ihre drei Kinder, die am 1982, 1983 und 1986 in den Niederlanden geboren wurden, hat sie dort erzogen. Nach der verbindlichen Feststellung des niederländischen Versicherungsträgers legte die Klägerin in der dortigen Invaliditätsversicherung zwischen dem 1.6.1977 und dem 5.9.2010 insgesamt 46 Monate mit Pflichtbeiträgen zurück. Am 2.9.2019 zog die Klägerin in die Bundesrepublik Deutschland. In der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung legte sie insgesamt 10 Monate mit Pflichtbeitragszeiten zurück.

Die Klägerin beantragte am 27.3.2020 bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Klägerin die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren (60 Monaten) nicht erfülle. Unter Berücksichtigung der von der niederländischen Invaliditätsversicherung festgestellten Pflichtbeitragszeiten habe die Klägerin lediglich 56 Monate Pflichtbeitragszeiten aufzuweisen. Kindererziehungszeiten könnten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung nicht berücksichtigt werden, weil die Kinder nicht in der Bundesrepublik erzogen worden seien und die Klägerin während der Kindererziehung auch nicht in der Bundesrepublik erwerbstätig gewesen sei (Bescheid vom 22.5.2020; Widerspruchsbescheid vom 19.11.2020). Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 12.7.2021), das LSG die dagegen von der Klägerin eingelegte Berufung zurückgewiesen. Auch nach europarechtlichen Vorschriften könne die Klägerin keine Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung beanspruchen. Aus Art 44 VO (EG) Nr 987/2009 iVm Art 11 Abs 3 Buchst e VO (EG) 883/2004 ergebe sich, dass der niederländische Träger für die Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten nach seinen eigenen Rechtsvorschriften zuständig sei. Nichts anderes folge aus den Grundsätzen, die der EuGH in der Entscheidung vom 19.7.2010 (C-522/10 - Reichel-Albert) aufgestellt habe. Die Klägerin habe nicht nur Versicherungszeiten aus einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland aufzuweisen. Vielmehr habe sie ihre Erwerbsbiografie im Wesentlichen in den Niederlanden zurückgelegt (Urteil vom 13.12.2022).

Die Klägerin hat Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom 5.4.2023 begründet hat. Sie macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

II. 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil sie nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form begründet wird. Sie ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Die Klägerin legt den allein geltend gemachten Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht hinreichend dar. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund gestützt, muss in der Beschwerdebegründung dargetan werden, dass die Rechtssache eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss zur ordnungsgemäßen Darlegung dieses Revisionszulassungsgrundes daher eine Rechtsfrage benennen und zudem deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 4 mwN). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung vom 5.4.2023 nicht gerecht.

Ihr lässt sich folgende Rechtsfrage entnehmen:

"Ist es für die rentenrechtliche Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat der EU zurückgelegten Kindererziehungszeiten ausreichend, wenn vor den Kindererziehungszeiten Pflichtbeiträge im EU-Ausland und nach den Kindererziehungszeiten Pflichtbeiträge auf dem Gebiet der BRD zurückgelegt wurden?"

Wegen des fehlenden Bezugs zu einer bestimmten Vorschrift ist schon zweifelhaft, ob die Klägerin damit eine aus sich heraus verständliche abstrakt-generelle Rechtsfrage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht formuliert. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache wäre jedenfalls selbst dann nicht hinreichend dargetan, entnähme man dem Gesamtvorbringen der Klägerin die Frage, ob bei europarechtskonformer Auslegung eine in einem anderen Mitgliedstaat erfolgte Kindererziehung einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland iS von § 56 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Alt 2 SGB VI gleichsteht, wenn die erziehende Person vor der Kindererziehung Beitragszeiten im Versicherungssystem des anderen Mitgliedstaats und nach der Kindererziehung Beitragszeiten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zurücklegt. Die Beschwerde legt die Klärungsbedürftigkeit der unterstellten Rechtsfrage nicht anforderungsgerecht dar.

Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn die Antwort nicht außer Zweifel steht, sich zB nicht unmittelbar und ohne Weiteres aus dem Gesetz beantworten lässt oder nicht bereits höchstrichterlich entschieden ist (vgl BSG Beschluss vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17; aus jüngerer Zeit zB BSG Beschluss vom 5.8.2022 - B 5 R 46/22 B - juris RdNr 8). Zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit ist unter Auswertung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu dem Problemkreis substantiiert vorzubringen, dass die aufgeworfene Frage noch nicht entschieden worden ist und sich den schon vorliegenden Entscheidungen auch keine ausreichenden Anhaltspunkte zu ihrer Beantwortung entnehmen lassen (vgl zB BSG Beschluss vom 24.11.2022 - B 5 R 146/22 B - juris RdNr 6). Die Klägerin trägt vor, eine einschlägige Entscheidung des BSG sei nicht ergangen. Im Urteil vom 11.5.2011 (B 5 R 22/10 R) habe das BSG die (unterstellte) Rechtsfrage offengelassen und den Rechtsstreit ua zur weiteren Prüfung, ob Art 44 Abs 2 VO (EG) Nr 987/2009 erweiternd auszulegen sei, an das dortige LSG zurückverwiesen. Zudem sei ein anderer Sachverhalt betroffen gewesen, die dortige Klägerin habe ihr Kind im Bundesgebiet geboren. Auch das Urteil des EuGH vom 7.7.2022 (C-576/20) beantworte die unterstellte Rechtsfrage nicht. Die landessozialgerichtliche Rechtsprechung sei uneinheitlich. Das zeige einerseits der Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.4.2021 (L 18 R 1114/16), das dem EuGH zwei Fragen zur Auslegung von Art 44 Abs 2 VO (EG) 987/2009 vorgelegt habe, und andererseits das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 14.12.2022 (L 4 R 187/21, Revision anhängig unter B 5 R 2/23 R). Mit diesem Vorbringen legt die Klägerin eine Klärungsbedürftigkeit der allenfalls angedeuteten Rechtsfrage nicht hinreichend dar. Die Beschwerdebegründung verhält sich bereits nicht zum Inhalt der Vorschrift des Art 44 Abs 2 VO (EG) Nr 987/2009 und lässt auch die erforderliche Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EuGH vermissen.

Art 44 Abs 2 VO (EG) Nr 987/2009 bestimmt Folgendes: Wird nach den Rechtsvorschriften des gemäß Titel II der Grundverordnung (VO ≪EG≫ Nr 883/2004) zuständigen Mitgliedstaats keine Kindererziehungszeit berücksichtigt, so bleibt der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach diesen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, zuständig für die Berücksichtigung dieser Zeit als Kindererziehungszeit nach seinen eigenen Rechtsvorschriften, so als hätte diese Kindererziehung in seinem eigenen Hoheitsgebiet stattgefunden (vgl zum Regelungsinhalt zB BSG Urteil vom 11.5.2011 - B 5 R 22/10 R - juris RdNr 21 f; BSG Beschluss vom 11.4.2018 - B 5 R 12/17 BH - juris RdNr 9). Diese Regelung berücksichtigt die vorausgegangene Rechtsprechung des EuGH. Dieser hatte mit den Urteilen vom 23.11.2000 (C-135/99 - Elsen) und 7.2.2002 (C-28/00 - Kauer) entschieden, dass ein Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Erziehungszeiten wie inländische Kindererziehungszeiten berücksichtigen muss, wenn zwischen den fraglichen Erziehungszeiten und den im Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten eine "enge Verbindung" (EuGH Urteil vom 23.11.2000 - C-135/99 - Elsen, juris RdNr 26) bzw eine "hinreichende Verbindung" (EuGH Urteil vom 7.2.2002 - C-28/00 - Kauer, juris RdNr 32) hergestellt werden kann. Eine solche Verbindung hat der EuGH in beiden Fällen bejaht, in denen Beschäftigungszeiten nur im Mitgliedsstaat zurückgelegt worden waren, bei dessen Träger die begehrte Rentenleistung beantragt wurde (vgl auch EuGH Urteil vom 19.7.2012 - C-522/10 - Reichel-Albert).

Mit seinem jüngsten Urteil vom 7.7.2022 (C-576/20) hat der EuGH entschieden, dass Art 44 VO 987/2009 keine abschließende Regelung zur Berücksichtigung von in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten darstellt (juris RdNr 44, 55). Auch in diesem Fall hatte die dortige Klägerin ausschließlich im rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in andere Mitgliedstaaten, in denen sie Kindererziehungszeiten zurücklegte. Ebenso wie im Fall Reichel-Albert sei im Hinblick auf den Grundsatz der Freizügigkeit gemäß Art 21 AEUV der Träger der Rentenversicherung im Beschäftigungsstaat verpflichtet, die in den Wohnsitzstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten wie im Inland zurückgelegte Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen (aaO RdNr 64 ff).

Ungeachtet der fehlenden Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung mangelt es im Hinblick auf die Klärungsfähigkeit auch an Ausführungen zum konkreten Sachverhalt. Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG, auf die die Klägerin auch Bezug nimmt, machte sie knapp 33 Jahre nach Geburt ihres jüngsten Kindes erstmals von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch und siedelte in die Bundesrepublik Deutschland über. Zuvor hatte sie Beitragszeiten ausschließlich in der niederländischen gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt. Nach ihren Angaben im Beschwerdeverfahren kehrte die Klägerin nach einem Jahr wieder in die Niederlande zurück. Es bedürfte bereits näherer Begründung, inwiefern die Klägerin durch die vorübergehende Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland Nachteile in Bezug auf die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten erleiden könnte (vgl zu einer vergleichbaren Konstellation bereits BSG Beschluss vom 21.4.2022 - B 5 R 35/22 B - juris RdNr 9). Nähere Darlegungen wären auch dazu erforderlich gewesen, inwiefern das Recht der Klägerin auf Freizügigkeit berührt und in welchem Umstand hier die "hinreichende Verbindung" zwischen den in den Niederlanden zurückgelegten Kindererziehungszeiten und den Versicherungszeiten in Deutschland begründet sein soll.

Im Übrigen hat die Klägerin auch nicht aufgezeigt, inwiefern die Frage der Anerkennung der Kindererziehungszeiten für ihren Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entscheidungserheblich sein könnte. Für einen solchen Anspruch kommt es nicht nur auf die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren (vgl § 50 Abs 1 Nr 2 SGB VI), sondern auch auf die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen an (sog Drei-Fünftel-Belegung gemäß § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2, Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI).

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 und 4 SGG.

Düring

Körner

Hannes

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16079369

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge