Leitsatz (amtlich)

Der Ablauf der Frist des BVG § 58 Abs 1 aF ist von Amts wegen zu beachten; die Fristvorschrift gilt jedoch nicht für Fälle, in denen die Voraussetzungen des verspätet angemeldeten Anspruchs zweifelsfrei gegeben sind.

 

Normenkette

BVG § 58 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20; SGG § 43 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Frist des § 58 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes aF gilt nicht, wenn die Voraussetzungen des verspätet angemeldeten Anspruchs zweifelsfrei gegeben sind.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerinnen zu 2) und 3), der Amtsgerichtsrat Dr. Klaus H, blieb nach einem Nachtgefecht in Rußland am 24. August 1942 vermißt; das Amtsgericht Elmshorn erklärte ihn durch Beschluß vom 30. Dezember 1949 für tot und stellte als Zeitpunkt des Todes den 24. August 1942 fest.

Am 20. April 1954 beantragten die Klägerinnen beim Versorgungsamt (VersorgA) Heide Hinterbliebenenversorgung. Die Klägerin zu 1) teilte dazu mit, sie habe die am 31. Dezember 1953 abgelaufene Anmeldefrist (§ 58 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) nicht einhalten können, weil sie durch geschäftliche und steuerliche Angelegenheiten stark in Anspruch genommen gewesen sei.

Durch Bescheid vom 15. November 1954 lehnte das VersorgA den Antrag der Klägerinnen wegen Fristversäumnis ab. Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg.

Das Landessozialgericht (LSG) Schleswig hat in seinem Urteil vom 29. Mai 1957 ausgeführt: Die Frist des § 58 Abs. 1 BVG sei eine Ausschlußfrist; eine nachträgliche Anmeldung (§ 58 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG) sei nicht möglich, weil die Klägerinnen nicht durch Umstände, die außerhalb ihres Willens gelegen hätten, an der rechtzeitigen Anmeldung verhindert worden seien. Die Berufung des beklagten Landes auf den Ablauf der Frist des § 58 Abs. 1 BVG stelle keine unzulässige Rechtsausübung dar.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Nach Abschluß des Verfahrens in der Berufungsinstanz beantragten die Klägerinnen, ihnen mit Rücksicht auf die Versäumung der Anmeldefrist einen Härteausgleich zu gewähren (§ 89 BVG). Diesen Antrag lehnte das VersorgA Heide am 15. Januar 1958 ab, weil die Klägerinnen nicht bedürftig seien.

Der mit der Revision der Klägerinnen befaßte 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat am 26. November 1959 beschlossen, dem Großen Senat zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 43 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) folgende Frage vorzulegen:

Stellt die Berufung der Versorgungsbehörde auf den Ablauf der Ausschlußfrist des § 58 Abs. 1 BVG einen Rechtsmißbrauch dar, wenn die sachliche Berechtigung des verspätet geltend gemachten Anspruchs nicht zweifelhaft ist?

Nachdem die Fristvorschriften der §§ 56 bis 59 BVG auf Grund des Ersten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts vom 27. Juni 1960 (1. KOVNG - BGBl I S. 453) mit Wirkung vom 1. Juni 1960 an weggefallen waren, stellte das VersorgA Heide durch Bescheid vom 13. September 1960 die Witwen- und Waisenbezüge der Klägerinnen vom 1. Juni 1960 an fest; für die Zeit vom 1. April 1954 bis zum 31. Mai 1960 blieben sie auch weiterhin streitig.

Im Verfahren vor dem Großen Senat tragen die Klägerinnen noch vor: Die Versäumung der Anmeldefrist sei auch darauf zurückzuführen, daß die Klägerin zu 1) bis in das Jahr 1954 hinein als Geschäftsführerin einer Lederfabrik wirtschaftlich versorgt gewesen sei und deshalb geglaubt habe, für sich und ihre Kinder keine Leistungen aus der Kriegsopferversorgung beanspruchen zu können.

Die Klägerinnen beantragen,

die vorgelegte Rechtsfrage zu bejahen, mindestens für den Fall, daß die Anspruchsberechtigten die rechtzeitige Anmeldung unterlassen hätten, weil sie der irrtümlichen Auffassung gewesen seien, die Versorgung der Kriegsopfer setze eine besondere Bedürftigkeit voraus.

Hilfsweise beantragen sie,

die Rechtsfrage mit der Einschränkung zu bejahen: "es sei denn, daß dem Versorgungsträger die Berücksichtigung des verspätet angemeldeten Anspruchs und der Einsatz der für die Befriedigung dieses Anspruchs und gleichartiger Ansprüche benötigten Deckungsmittel nicht zuzumuten sind".

Der Beklagte beantragt,

die vorgelegte Rechtsfrage zu verneinen.

II

Die Voraussetzungen, unter denen der erkennende Senat nach § 43 SGG den Großen Senat anrufen kann, sind im vorliegenden Falle erfüllt. Die Entscheidung über die Revision der Klägerinnen hängt davon ab, ob der Anspruch auf Versorgung für die Zeit vom 1. April 1954 bis zum 31. Mai 1960 unbegründet ist, weil die Klägerinnen die Anmeldefrist des § 58 BVG aF nicht gewahrt haben. Die Frage, welche Bedeutung dieser Frist zukommt, ist, wie der Große Senat in Übereinstimmung mit dem erkennenden Senat und den Beteiligten annimmt, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 43 SGG. Deshalb kann die für alle Gerichtszweige gleichermaßen im Schrifttum umstrittene Frage unentschieden bleiben, ob allein der erkennende Senat über die Grundsätzlichkeit einer Rechtsfrage zu urteilen hat oder ob der Große Senat berechtigt und verpflichtet ist, die Grundsätzlichkeit nachzuprüfen. Auch die weitere Voraussetzung des § 43 SGG ist gegeben, daß die Anrufung des Großen Senats nach der Auffassung des erkennenden Senats zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist; der 8. Senat, auf dessen Auffassung es insoweit allein ankommt, hat seine Vorlage damit begründet, daß die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Beantwortung der gestellten Frage durch den Großen Senat erfordere.

In der Sache selbst sieht sich der Große Senat nicht in der Lage, die Rechtsfrage so, wie sie gestellt ist, zu bejahen oder zu verneinen. Nach seiner Auffassung steht es nicht im Ermessen der Versorgungsverwaltung, sich auf den Ablauf der Frist des § 58 Abs. 1 BVG aF zu berufen, vielmehr ist der Fristablauf von Amts wegen zu beachten; die Fristvorschrift gilt jedoch nicht für Fälle, in denen die Voraussetzungen des verspätet angemeldeten Anspruchs zweifelsfrei gegeben sind.

1.) Zunächst kann unentschieden bleiben, ob allgemein im Recht der Leistungsverwaltung zu unterscheiden ist zwischen den Voraussetzungen für die sachliche Berechtigung des Anspruchs auf Versorgung und den Voraussetzungen für die Geltendmachung dieses Anspruchs im Verwaltungsverfahren (Antrag, Einhaltung der Anmeldefrist) und ob gegebenenfalls die hier zur Beurteilung stehende Vorschrift des § 58 Abs. 1 BVG aF eine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung enthält oder ob sie dem Recht des Verwaltungsverfahrens der Kriegsopferversorgung zuzurechnen ist. In beiden Fällen ist § 58 Abs. 1 wie jede andere Vorschrift des BVG auf ihre Bedeutung im Rechtssystem der Kriegsopferversorgung und der Leistungsverwaltung zu untersuchen (2.) und ihr Inhalt im Wege der Auslegung zu ermitteln (3.).

2.) Der Große Senat geht davon aus, daß das Recht der Versorgung, das den Ausgleich von Schäden an Leib und Leben der Opfer des Krieges regelt, ebenso wie das Lastenausgleichsrecht, das dem Ausgleich materieller Schäden dient, das sonstige Kriegsfolgenrecht (Entschädigung der Kriegsgefangenen, der Vertriebenen, der Wiedergutmachungsberechtigten, der Besatzungsgeschädigten) und überhaupt das gesamte Recht der Leistungsverwaltung öffentliches Recht darstellt. Für dieses Recht ist charakteristisch, daß seine Normen im Zweifel zwingender Natur sind und nicht zur Disposition der Betroffenen und Beteiligten stehen. So ist auch § 58 Abs. 1 BVG aF eine zwingende Norm; Verwaltung und Gerichte haben sie von Amts wegen zu beachten. Dem BVG ist nicht zu entnehmen, daß der Ablauf der Frist des § 58 Abs. 1 der Durchsetzung des Versorgungsanspruchs nur dann entgegenstände, wenn sich die Verwaltungsbehörde auf den Fristablauf beruft.

Dieser Auffassung widerspricht nicht, daß die Fristvorschriften des BVG, die bis zum 31. Mai 1960 gegolten haben, auf §§ 52 bis 54 des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) vom 12. Mai 1920 (RGBl S. 989) zurückgehen und diese wiederum in enger Anlehnung an §§ 1546 bis 1548 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geschaffen worden sind (vgl. Materialien zum RVG S. 49), also in Anlehnung an Fristvorschriften aus dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, von denen das Reichsversicherungsamt (RVA) in ständiger Rechtsprechung angenommen hat, an ihrer Beachtung bestehe kein öffentliches Interesse, ihre Einhaltung sei deshalb nicht von Amts wegen zu prüfen und ein Träger der gesetzlichen Unfallversicherung dürfe darauf verzichten, einen Entschädigungsanspruch unter Hinweis auf den Fristablauf abzulehnen (zB RVA, AN 1891 S. 150 Nr. 937; AN 1950 S. 270 Nr. 2091; AN 1916 S. 501, 502; EuM 25 S. 466, 468; Runderlaß des RVA vom 28.9.1928, AN 1928 S. IV 330; vgl. auch BSG 10, 88 und Urteil des BSG vom 13. Dezember 1960 - 2 RU 178/57). In Anlehnung an die Rechtsprechung des RVA zu §§ 1546 ff RVO hat auch das Reichsversorgungsgericht (RVG) zu § 52 RVG die Auffassung vertreten, die Frist sei zwar eine materielle Ausschlußfrist, aber nicht in dem strengen Sinne, daß ihre Nichteinhaltung von Amts wegen geprüft werden müßte (RVG 3, 106). Diese Rechtsprechung hat das Gesetz zur Änderung des Reichsversorgungsgesetzes und des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 27. September 1938 (RGBl S. 1217) "sanktioniert"; es hat die Vorschrift des § 54 a in das RVG eingefügt und darin einen "Verzicht" auf den "Einwand der Fristversäumnis" ausdrücklich vorgesehen (vgl. Amtl. Begründung zu dem angeführten Änderungsgesetz, RVBl 1938 S. V 67). In der Folge hat sich aber die Rechtslage entscheidend dadurch geändert, daß in das BVG vom 20. Dezember 1950 (BGBl S. 791) eine dem § 54 a RVG entsprechende Vorschrift nicht mehr aufgenommen worden ist und auch die später ergangenen Änderungsgesetze eine solche Vorschrift nicht wieder gebracht haben. Im Einklang mit dieser Rechtsentwicklung sind auch auf zahlreichen anderen Gebieten der Leistungsverwaltung in der Zeit nach 1949 Entschädigungsansprüche an eine von Amts wegen zu beachtende Frist gebunden worden; dabei lauten die Fristvorschriften teilweise wörtlich so wie §§ 56, 58 BVG aF

(vgl. zB § 8 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Kriegsopferversorgung für Berechtigte im Ausland - KOV vom 3.8.1953 - RGBl I S. 843 - und § 9 Abs. 1 des Bundesgesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Kriegsopferversorgung für Berechtigte im Ausland - BWK Ausl - in der Fassung des Gesetzes vom 25.6.1958 - BGBl I S. 414 - hierzu Blessin/Wilden, Kommentar zum Bundesentschädigungsgesetz, 2. Aufl., § 8 KOG Anm. 2 S. 1163; § 24 Abs. 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes - BWGöD - vom 11.5.1951 - BGBl I S. 291 in der Fassung der Anlage zu dem Gesetz vom 23.12.1955 - BGBl I S. 820 - und des Gesetzes vom 10.10.1957 - BGBl I S. 1703 - hierzu Blessin/Ehrig/Wilden, Kommentar zum Bundesentschädigungsgesetz, 3. Aufl., § 24 BWGöD Anm. 4 S. 1257 und Anders, Kommentar zum BWGöD, 2. Aufl., § 24 Anm. 3 a, 1. Absatz S. 289; § 4 der Verordnung zur Durchführung des § 34 BWGöD vom 21.4.1952 - BGBl I S. 219; § 6 Abs. 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für die im Ausland lebenden Angehörigen des öffentlichen Dienstes - BWGöD Ausl - vom 18.3.1952 - BGBl I S. 137 - in der Fassung des Gesetzes vom 23.12.1955 - BGBl I S. 820; § 81 Abs. 1, 2 und 4 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes - GG - fallenden Personen vom 11.5.1951 - BGBl I S. 307 - in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.9.1957 - BGBl I S. 1296 - hierzu Anders, Gesetz zu Art. 131 GG, 4. Aufl., § 81 Anm. 1 aE S. 406 und Anm. 4 S. 407; § 236 Abs. 2 des Lastenausgleichsgesetzes - LAG - vom 14.8.1952 - BGBl I S. 446 in der Fassung des 4. Änderungsgesetzes vom 12. Juli 1955 - BGBl I S. 403; § 100 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG - in der Fassung vom 3.4.1957 - BGBl I S. 321 - hierzu Draeger/Buchwitz/Schönefelder, Kommentar zum AVAVG, § 100 Anm. 2 S. 593; § 189 des Bundesentschädigungsgesetzes - BEG - in der Fassung der Anlage zu dem Gesetz vom 29. Juni 1956 - BGBl I S. 559 - und des Gesetzes vom 1.7.1957 - BGBl I S. 663 - hierzu OLG Düsseldorf, RzW 1960 S. 410, und OLG Hamburg, RzW 1960 S. 522, 523, die eine von Amts wegen zu beachtende Ausschlußfrist annehmen; aA ohne Begründung Blessin/Ehrig/Wilden, Kommentar zum BEG, 3. Aufl., § 189 BEG Anm. 7 S. 966; von Dam/Loos, Kommentar zum BEG, § 189 Anm. 5 S. 755; Becker/Huber/Küster, Kommentar zum BEG, § 961 Anm. 2 S. 722).

Auch für § 58 Abs. 1 BVG aF ist der Große Senat der Ansicht, daß der Ablauf der Frist von Amts wegen zu beachten ist; es liegt kein Grund vor, diese Fristvorschrift insoweit anders zu werten als die Fristvorschriften in den oben zitierten Gesetzen. Dies hat zur Folge, daß es, wenn die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über Versorgungsansprüche zu entscheiden haben, nicht darauf ankommt, ob die Versorgungsbehörde sich auf den Ablauf der Frist beruft oder nicht. Es ist deshalb nicht zu fragen, ob die Berufung der Versorgungsbehörde auf den Ablauf der Frist des § 58 Abs. 1 BVG aF unter bestimmten Voraussetzungen einen "Rechtsmißbrauch" darstelle, vielmehr ist klarzustellen, daß der Ablauf der Frist des § 54 Abs. 1 BVG aF in jedem Falle von Amts wegen zu beachten ist und daß es sich nur noch darum handeln kann, im Wege der Auslegung dieser Vorschrift festzustellen, welche Fälle von dem Ausschluß durch Fristablauf getroffen werden sollen.

3.) Bei der Auslegung des § 58 Abs. 1 BVG aF ist zu beachten, daß dem Inhalt jeder Rechtsvorschrift durch ihre rechtsethische und soziale Funktion Grenzen gesetzt sind. Zwar hat § 58 Abs. 1 BVG aF - darin stimmt der Große Senat mit dem vorlegenden Senat überein - auch Ordnungscharakter in dem Sinne, daß die Anmeldung des Versorgungsanspruchs an eine bestimmte Frist gebunden sein soll, um der Verwaltung einen ausreichenden Überblick über den Umfang der Versorgungslast zu ermöglichen; Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck der Fristvorschriften lassen aber erkennen, daß jener Zweck zurücktritt hinter dem Ziel, die Verwaltung davor zu schützen, daß Ansprüche gegen sie zu einer Zeit erhoben werden, zu welcher der Sachverhalt nur noch unter größten Schwierigkeiten aufzuklären ist. Ist dieses Ziel der Vorschrift aber nicht gefährdet, weil die Voraussetzungen des "verspätet angemeldeten" Anspruchs zweifelsfrei gegeben sind, dann läßt die Funktion der Fristvorschriften es nicht zu, sie anzuwenden. Wie die §§ 1546 ff RVO nach der Auffassung des RVA, welcher der 2. Senat des BSG beigetreten ist, den Zweck verfolgen, die Berufsgenossenschaften vor unbegründeten Ansprüchen zu schützen, nicht aber ein Mittel sein sollen, die Verfolgung sachlich berechtigter Ansprüche zu erschweren (vgl. RVA, AN 1916 S. 501 und Runderlaß vom 28.9.1928, AN 1928 S. 330; BSG 10, 88, 91), so gilt dies auch für die Fristvorschriften des RVG, die, wie dargelegt, jenen Vorschriften aus dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nachgebildet worden sind. Demgemäß heißt es in den Materialien zum RVG (S. 49), man habe eine Ausschlußfrist von zwei Jahren vorgesehen, weil "erfahrungsgemäß nach Ablauf einer längeren Frist die Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Dienstbeschädigung und dem Tode des Beschädigten auf große Schwierigkeiten stoße". Diese Begründung geht mit Recht davon aus, daß die Versorgungsverwaltung, die, wie jede Verwaltung, den für einen geltend gemachten Anspruch maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen erforschen muß, bei sehr später Anmeldung des Anspruchs diese Aufgabe oft nicht mehr zu lösen vermag. Daß Rechtsprechung und - wie § 54 a RVG in der Fassung des Gesetzes vom 27. September 1938 zeigt - auch der Gesetzgeber geglaubt haben, die Verwaltung von dieser Aufgabe entlasten und diesen Zweck durch Annahme einer "unechten", in die Disposition der Verwaltung gestellten "Ausschlußfrist" erreichen zu sollen, läßt vielleicht auf eine gewisse Unsicherheit in der Charakterisierung des Mittels schließen, zeigt aber doch mit aller Deutlichkeit, daß der Fristvorschrift von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung jener oben dargelegte Zweck zugesprochen wurde. Daß dieser Zweckgedanke auch den Fristvorschriften des BVG zugrunde gelegen hat, ist unbedenklich anzunehmen. Eine Bestätigung hierfür findet sich in der Begründung zum 1. KOVNG vom 27. Juni 1960; dort ist ausgeführt, es sei darauf hingewiesen worden, daß die Fristvorschriften des BVG die Verwaltung vor unberechtigten Anträgen und vor Beweisschwierigkeiten schützen sollen, diese Erwägung habe sich jedoch - mittlerweile - als bedeutungslos herausgestellt (Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucks. 1239 S. 30). Hiernach haben nach der Auffassung des Großen Senats auch die Fristvorschriften der §§ 56, 58 BVG aF die "Funktion", Versorgungsansprüche auszuschließen, wenn wegen des Ablaufs der Frist die Feststellung des Sachverhalts nach allgemeiner Erfahrung entweder überhaupt nicht mehr oder nur noch unter unzumutbaren Mühen möglich ist. Sind aber die Voraussetzungen des "verspätet angemeldeten" Anspruchs zweifelsfrei gegeben, so widerspricht eine Anwendung der Fristvorschrift ihrer Funktion und führt zu einem sozial unangemessenen und nicht gewollten Ergebnis; diese Fälle sollen von der Vorschrift nicht getroffen werden.

Demgemäß hat der Große Senat entschieden:

Die Frist des § 58 Abs. 1 BVG aF gilt nicht, wenn die Voraussetzungen des verspätet angemeldeten Anspruchs zweifelsfrei gegeben sind.

 

Fundstellen

BSGE, 246

NJW 1961, 2277

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