Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage an Großen Senat. Kriegsopferversorgung. Rechtsmissbrauch durch Berufung auf Ausschlussfrist

 

Orientierungssatz

Stellt die Berufung der Versorgungsbehörde auf den Ablauf der Ausschlussfrist des § 58 Abs. 1 BVG einen Rechtsmissbrauch dar, wenn die sachliche Berechtigung des verspätet geltend gemachten Anspruchs nicht zweifelhaft ist?

 

Normenkette

BVG § 58 Abs. 1 Sätze 1-3, § 57 Abs. 1 Nr. 3, §§ 56, § 56ff; RVersorgG § 52; RVO §§ 1546, § 1546ff; SGG §§ 42-43; BGB §§ 138, 242

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 29.05.1957)

SG Schleswig (Urteil vom 19.04.1956)

 

Tenor

Stellt die Berufung der Versorgungsbehörde auf den Ablauf der Ausschlußfrist des § 58 Abs. 1 BVG einen Rechtsmißbrauch dar, wenn die sachliche Berechtigung des verspätet geltend gemachten Anspruchs nicht zweifelhaft ist?

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig hat mit Urteil vom 29. Mai 1957 die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG.) Schleswig vom 19. April 1956 als unbegründet zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen. Gegen das ihnen am 25. Juli 1957 zugestellte Urteil haben die Klägerinnen am 15. August 1957 Revision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen, ihnen vom 1. April 1954 an Hinterbliebenenversorgung nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu gewähren. Die Revision ist innerhalb der Revisionsbegründungsfrist formgerecht begründet worden.

Der Beklagte hat beantragt, die Revision der Klägerinnen als unbegründet zurückzuweisen.

Dem Rechtsstreit liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Ehemann und Vater der Klägerinnen, der Amtsgerichtsrat Dr. K H, ist seit einem Nachtgefecht am 24. August 1942 verschollen; er wurde durch Beschluß des Amtsgerichts Elmshorn vom 30. Dezember 1949 für tot erklärt, als Zeitpunkt des Todes wurde der 24. August 1942 festgestellt.

Am 20. April 1954 stellte die Klägerin zu 1) für sich und die Klägerinnen zu 2) und 3) beim Versorgungsamt (VersorgA.) H Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenversorgung. Sie teilte dazu mit, daß sie in den letzten Monaten des Jahres 1953 durch geschäftliche und steuerliche Angelegenheiten stark in Anspruch genommen gewesen sei und deshalb die Frist des § 58 Abs. 1 BVG zur Anmeldung der geltend gemachten Ansprüche versäumt habe.

Mit Bescheid vom 15. November 1954 lehnte das VersorgA. den Antrag der Klägerinnen unter Berufung auf § 58 BVG wegen Fristversäumnis ab. Die Frist zur Antragstellung sei für die Klägerinnen am 31. Dezember 1953 beendet gewesen; § 58 Abs. 1 Satz 3 BVG i.V. mit § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG könne keine Anwendung finden, da die Klägerinnen an der Anmeldung der Versorgungsansprüche nicht durch außerhalb ihres Willens liegende Verhältnisse verhindert gewesen seien.

Der Widerspruch gegen diesen Bescheid und die Klage hatten keinen Erfolg.

Das LSG. hat zur Begründung des angefochtenen Urteils, mit dem es die Berufung gegen das Urteil des SG. als unbegründet zurückgewiesen hat, ausgeführt: Die Frist des § 58 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVG - 31.12.1953 - sei eine Ausschlußfrist; diese sei von den Klägerinnen versäumt worden. Die Anwendung der Vorschrift des § 58 Abs. 1 Satz 3 BVG i.V. mit § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG zugunsten der Klägerinnen sei nicht gerechtfertigt; auch die von ihnen behauptete Unkenntnis über die gesetzlichen Vorschriften und insbesondere über die Frist des § 58 BVG gehe zu Lasten der Klägerinnen; die während des Krieges ergangenen Vorschriften über Fristenhemmungen seien im Hinblick darauf, daß das am 1. Oktober 1950 in Kraft getretene BVG eigene Fristvorschriften enthalte, nicht anwendbar. Endlich stelle die Berufung des Beklagten auf die Fristvorschriften des BVG bei Ablehnung des Anspruchs der Klägerinnen keine unzulässige Ausübung eines gesetzlich zustehenden Rechts dar.

Am 15. Januar 1958, also während des anhängigen Revisionsverfahrens, hat die Verwaltungsbehörde den Klägerinnen einen Bescheid erteilt, mit dem sie im Hinblick auf das Einkommen der Klägerinnen die Gewährung eines Härteausgleichs nach § 89 BVG abgelehnt hat.

Die Revision der Klägerinnen ist form- und fristgerecht erhoben worden und statthaft. Die Beteiligten haben - im beiderseitigen Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) - ihre Sachanträge schriftlich gestellt.

Der Rechtsstreit ist an sich zur Entscheidung reif. Der Senat hält die Revision für unbegründet, hat jedoch davon abgesehen, selbst in der Sache zu entscheiden; er mißt der vorgelegten Rechtsfrage für den vorliegenden Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung bei und hat daher beschlossen, die obengenannte Rechtsfrage dem Großen Senat des Bundessozialgerichts (BSG.) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 43 SGG) zur Entscheidung vorzulegen.

Hierbei ist der Senat von folgenden Erwägungen ausgegangen: Nach § 58 Abs. 1 BVG müssen Witwen, Witwer und Waisen den Versorgungsanspruch zur Vermeidung des Ausschlusses binnen zwei Jahren nach dem Tode des Beschädigten anmelden; die Frist endet jedoch frühestens am 31. Dezember 1953; die Vorschrift des § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG, nach der auch nach Ablauf der Frist der Anspruch noch geltend gemacht werden kann, wenn der Berechtigte an der rechtzeitigen Anmeldung durch außerhalb seines Willens liegende Verhältnisse verhindert worden ist, gilt entsprechend. Danach herrscht im BVG ebenso wie für Beschädigte (§ 56 BVG) und Eltern (§ 59 BVG) auch für Witwen, Witwer und Waisen grundsätzlich das Anmeldeprinzip: Wer Versorgung nach dem BVG begehrt, muß seinen Anspruch innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist anmelden. Einer Auseinandersetzung mit den abweichend von diesem Grundsatz geltenden Ausnahmen (z.B. § 86 Abs. 1, § 86 Abs. 2 BVG; vgl. auch den Grundsatz von der Einheitlichkeit des Rentenanspruchs) bedarf es hierbei vorliegend nicht, da ein solcher Ausnahmefall nicht gegeben ist.

Die Fristvorschriften des BVG dienen nach ihrem Sinn und Zweck dazu, Rechtsverhältnisse innerhalb eines bestimmten abgegrenzten Zeitraumes zu klären. Bei diesen Fristen handelt es sich im Gegensatz zu den prozessualen Fristen um sogenannte Ausschlußfristen, die, im öffentlichen Interesse liegend, dem materiellen Recht angehören und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder auch eine Nachsichtsgewährung nicht zulassen. Das bedeutet, daß ein Berechtigter, der eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist versäumt, seines Antragsrechts auf einen Anspruch und damit auch seines Anspruchs verlustig geht, ohne daß die Verwaltungsbehörde in die sachliche Prüfung eines trotzdem noch gestellten Antrags einzutreten braucht.

Die Klägerinnen haben unbestritten ihren Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung am 20. April 1954 bei der zuständigen Versorgungsbehörde angemeldet; ebenso unbestritten ist, daß der verstorbene Ehemann und Vater durch Beschluß des Amtsgerichts Elmshorn vom 30. Dezember 1949 für tot erklärt worden und die Bestätigung der Rechtskraft dieses Beschlusses am 14. März 1950 erfolgt ist. Das hatte zur Folge, daß die Regelfrist des § 58 Abs. 1 Satz 1 BVG - unter Berücksichtigung des § 58 Abs. 1 Satz 2 BVG - am 30. September 1952 abgelaufen war. Dabei ist es entgegen der Auffassung der Revision unerheblich, daß es sich vorliegend nicht um den "Tod", sondern an seiner Stelle um die rechtskräftige "Todeserklärung" des Ehemannes und Vaters der Klägerinnen handelt. Denn das Gesetz macht zwischen der Versorgung von Hinterbliebenen und der Versorgung von Angehörigen für tot Erklärter keinen Unterschied, beide Gruppen werden im Hinblick darauf, daß der für tot Erklärte als tot gilt, gleichmäßig als Hinterbliebene behandelt und versorgt; deshalb besteht kein Anlaß, in bezug auf die in demselben Gesetz geregelten Ausschlußfristen Unterschiede zu machen, die eine der Gruppen gegenüber der anderen bevorzugen oder benachteiligen würde. Es kann ferner unerörtert bleiben, in welcher Form und ob überhaupt die Vorschrift des § 58 BVG auch auf die Fälle des § 52 BVG (Versorgung von Angehörigen Verschollener) angewandt werden kann, denn bei dem Ehemann und Vater der Klägerinnen lag nach der rechtskräftig erfolgten Todeserklärung eine Verschollenheit im Sinne des § 52 BVG nicht mehr vor.

Im vorliegenden Falle war der Ablauf der zweijährigen Anmeldefrist des § 58 Abs. 1 Satz 1 BVG (März 1952) jedoch unerheblich, da diese bereits vor dem 31. Dezember 1953 endete. § 58 Abs. 1 Satz 2 BVG schreibt zwingend vor, daß Anträge von Witwen, Witwern und Waisen auf Versorgung unabhängig von der Frist des § 58 Abs. 1 Satz 1 BVG rechtswirksam bis zum 31. Dezember 1953 gestellt werden können. Die Klägerinnen haben aber auch diese Frist versäumt, denn ihr Antrag auf Versorgung ist erst am 20. April 1954, also nach Ablauf auch der Frist des § 58 Abs. 1 Satz 2 BVG, beim VersorgA. eingegangen.

Das Vorbringen der Klägerinnen, sie seien an der rechtzeitigen Anmeldung ihrer Ansprüche (bis zum 31. Dezember 1953) durch außerhalb ihres Willens liegende Verhältnisse verhindert gewesen, deshalb müsse ihnen die Rechtswohltat des § 58 Abs. 1 Satz 3 i.V. mit § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG zugute kommen, greift nicht durch.

Entgegen der Auffassung der Revision konnte die Versorgungsbehörde auch nicht aus Billigkeitserwägungen davon absehen, sich auf die von den Klägerinnen versäumte Ausschlußfrist zu berufen, auch wenn diese geltend machen, ihre zunächst befriedigende wirtschaftliche Lage habe sie veranlaßt, nicht schon früher öffentliche Mittel für ihren Unterhalt zu beanspruchen. Denn für Billigkeitserwägungen ist für die Versorgungsbehörde bei Anwendung der Fristvorschriften der §§ 56 bis 59 BVG kein Raum; es steht - mangels einer besonderen dahingehenden gesetzlichen Ermächtigung wie etwa der des § 54a des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) - nicht in ihrem Ermessen, ob sie auf den Einwand der Fristversäumnis verzichten will oder nicht. Vielmehr muß sie von Amts wegen beachten, ob bei Geltendmachung eines Anspruchs die Anmeldefrist gewahrt ist (a.A. LSG. Berlin in "Sozialgerichtsbarkeit" 1956 S. 173). Das ergibt sich zwingend aus dem Gesetz, nach dem der Berechtigte seine Ansprüche innerhalb der vorgeschriebenen Frist anmelden "muß", das ergibt sich auch daraus, daß für sogenannte Härtefälle, und dazu gehören die, in denen wegen Fristversäumnis ein Antrag abgelehnt worden ist, im § 89 BVG ausdrücklich ein in das Ermessen der Verwaltungsbehörde gestellter Härteausgleich vorgesehen ist. Zu dem - fast wörtlich mit § 56 BVG übereinstimmenden - § 52 RVG hat das Reichsversorgungsgericht (RVGer.) allerdings ausgesprochen (RVGer. 3 S. 106/107), daß es sich bei den Fristen des RVG zwar um materielle Ausschlußfristen handele, jedoch nicht in dem strengen Sinn, daß ihre Nichteinhaltung von Amts wegen geprüft werden müßte, und daß auf das aus ihrem Ablauf erwachsende Recht der Ablehnung des Anspruchs etwa nicht verzichtet werden dürfte. Diese Rechtsprechung sieht der erkennende Senat, trotz der im wesentlichen übereinstimmenden Fristvorschriften des RVG und des BVG, als dem Sinn und Zweck der Fristvorschriften nicht entsprechend und als überholt an. Denn eine vom RVGer. gemachte Unterscheidung zwischen Ausschlußfristen im strengen Sinn oder in einem anderen, weniger strengen, gibt es nicht. Aus den Urteilsgründen des RVGer. (a.a.O.) könnte entnommen werden, daß bei dieser Entscheidung an eine Verwandtschaft rechtlicher Natur der Ausschlußfristen mit den Verjährungsfristen gedacht worden ist. Das aber geht nicht an; zwischen Ausschlußfristen und Verjährungsfristen muß vielmehr scharf unterschieden werden. Die Ausschlußfrist besagt, daß eine Handlung rechtswirksam für die Entstehung eines Anspruchs nur innerhalb einer bestimmten Frist vorgenommen werden kann und von Amts wegen berücksichtigt werden muß; die Verjährung dagegen wirkt nur auf Einrede und vernichtet - durch die Einrede - einen bereits bestehenden Anspruch. Danach bestand vorliegend für die Verwaltungsbehörde keine Möglichkeit, auf den Einwand der Fristversäumnis zu verzichten.

Daraus ergibt sich nach Auffassung des Senats, daß die Berufung der Versorgungsbehörde auf die Ausschlußfrist des BVG auch keinen Rechtsmißbrauch darstellen kann. Die in Anwendung der Vorschriften der §§ 138, 157, 242, 862 BGB entwickelte Lehre vom Rechtsmißbrauch oder der unzulässigen Rechtsausübung stützt sich auf den das gesamte Rechtsleben, also auch das Gebiet des öffentlichen Rechts, beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben; dieser ist - im Einzelfalle - heranzuziehen, wenn durch die Ausübung eines Rechts Folgen vermieden werden sollen, die mit Treu und Glauben schlechthin unvereinbar sind. Eine unzulässige oder mißbräuchliche Rechtsausübung läßt sich aber grundsätzlich dann nicht annehmen, wenn das Gesetz der Verwaltung ausdrücklich ein Recht zu einem Tun eingeräumt hat, es sei denn, daß ganz besondere Umstände des Einzelfalles zur Annahme eines Mißbrauchs bei der Rechtsausübung gebieterisch zwingen (BSG. 2 S. 289). Das muß nach Auffassung des Senats um so mehr gelten, wenn es sich nicht nur um ein vom Gesetz eingeräumtes Recht, sondern sogar um eine gesetzliche Verpflichtung handelt, deren Nichterfüllung den Vorwurf der Pflichtverletzung nach sich ziehen würde. Dies aber ist bei den Ausschlußfristen des BVG der Fall. Denn in den Vorschriften über sie gibt das Gesetz dem Versorgungsträger nicht nur das Recht - wie etwa bei den Verjährungsvorschriften dem Berechtigten das Recht zur Einrede -, sondern es macht ihm zur Pflicht, einen nach Ablauf einer Ausschlußfrist angemeldeten Anspruch ohne sachliche Prüfung wegen Fristversäumnis abzulehnen. In der Erfüllung dieser gesetzlichen Verpflichtung aber einen Rechtsmißbrauch sehen wollen, weil mit ihr notwendig auch das Bestreiten eines geltend gemachten Rechts oder Anspruchs verbunden ist (vgl. Haueisen in NJW. 1957 S. 729). kann nicht der Wille des Gesetzes sein.

Daran kann sich auch dann nichts ändern, wenn wie im vorliegenden Fall die sachliche Berechtigung des verspätet geltend gemachten Anspruchs an sich nicht zweifelhaft ist. Wenn dazu - unter Hinweis auf den Runderlaß des Reichsversicherungsamts (RVA.) vom 28. September 1928 (AN. 1928 S. 330) zu den Ausschlußfristen der §§ 1546 ff. der Reichsversicherungsordnung (RVO) - geltend gemacht wird, die "Funktion" des BVG, der Daseinsvorsorge zu dienen, könne eine so strenge Auffassung über die in jedem Falle zwingend vorgeschriebene Beachtung der Ausschlußfristen durch die Verwaltungsbehörden nicht rechtfertigen (vgl. Haueisen a.a.O.), so wird über die "Funktion" des Gesetzes als Ganzes hinweg die "Funktion" der Ausschlußfristen übersehen. Von einer "sozialen Funktion" kann bei ihnen, die ihrem Sinn und Zweck entsprechend nach dem Willen des Gesetzgebers im Interesse einer ordnungsmäßigen Verwaltung ausschließlichen Ordnungscharakter haben, keine Rede sein. Wollte man ihnen mit Haueisen diese soziale. Funktion zuerkennen, so wäre der Schritt, für die prozeßrechtlichen Fristen dasselbe zu tun, nicht allzu groß. Denn nicht anders als die materiell-rechtlichen Ausschlußfristen haben auch die Fristen des Prozeßrechts überwiegenden Ordnungscharakter und dienen der Schaffung klarer Verhältnisse. Fordert man aber vom Richter Gesetzestreue bei der Anwendung prozeßrechtlicher Ausschlußfristen, so ist nicht einzusehen, warum bei Anwendung der materiell-rechtlichen Ausschlußfristen gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstoßen werden kann. Die Ausschlußfristen des BVG schließen deshalb jedes freie Verwaltungshandeln aus.

Diese Auffassung über die Ausschlußfristen des BVG findet nicht zuletzt auch in den Verhandlungen des (26.) Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages (1. Wahlperiode 1949) ihre Stütze. Wahrscheinlich im Rückblick auf die erst später in das RVG aufgenommene Vorschrift des § 54 a RVG wurde zur Regierungsvorlage beantragt, zu den Fristvorschriften des BVG eine ergänzende Vorschrift in folgender Fassung einzuschieben: "Auf den Einwand der Fristversäumnis kann in Härtefällen verzichtet werden". Dieser Antrag wurde zurückgenommen, nachdem gegen ihn geltend gemacht worden war, daß die Aufnahme einer Härteklausel in der vorgeschlagenen Form die Fristvorschriften des BVG illusorisch machen werde, daß im übrigen zwei bis drei Jahre (als Frist) "in Anbetracht dessen, daß man im sonstigen Rechtsleben an Fristen von 14 Tagen gebunden sei, eine ausreichend lange Zeit" sei. Damit ist klar zum Ausdruck gebracht worden, daß in Fällen der Fristversäumnis die Berufung auf die Ausschlußfristen des BVG unterschiedslos zwingend vorgeschrieben sein soll, also auch in Härtefällen, zu denen gerade die gehören, in denen die sachliche Berechtigung des verspätet geltend gemachten Anspruchs nicht zweifelhaft ist. Hat aber der Gesetzgeber selbst - und in Kenntnis dessen, daß Härten dann unvermeidbar sind - jede Möglichkeit eines Verzichts auf den Einwand der Fristversäumnis ausgeschlossen, so kann bei gesetzmäßigem Handeln der Verwaltungsbehörde auch von einem Rechtsmißbrauch keine Rede sein.

Der Senat übersieht dabei nicht, daß es sich bei den im Runderlaß des RVA. vom 28. September 1928 (a.a.O.) angeführten Vorschriften der §§ 1546 ff. RVO nicht anders als bei den §§ 56 bis 59 BVG auch um materiell-rechtliche Ausschlußfristen handelt, und daß die §§ 1546 ff. RVO nach Auffassung des RVA. im Recht der Unfallversicherung die Berufsgenossenschaften lediglich vor unbegründeten Ansprüchen schützen, nicht aber ein Mittel sein sollten, um die Verfolgung sachlich berechtigter Ansprüche zu erschweren. Ebensowenig wird übersehen. daß der 2. Senat des BSG. sich dieser Auffassung weitgehend angeschlossen hat, ohne allerdings ausdrücklich darüber zu entscheiden, wenn er in seinem Urteil vom 23. Juni 1959 - 2 RU 21/54 - ausführt: "Wenn allerdings die sachliche Berechtigung des verspätet geltend gemachten Anspruchs außer Zweifel stünde, läge es nahe, in der Berufung auf den Fristablauf einen Mißbrauch zu sehen (vgl. auch den Leitsatz zu diesem Urteil: "Die Berufung darauf, daß der Entschädigungsanspruch durch die Versäumung der Anmeldefrist des § 1546 RVO ausgeschlossen sei, ist jedenfalls dann kein Rechtsmißbrauch, wenn der verspätet geltend gemachte Anspruch nicht offensichtlich berechtigt ist und die Berufung auf den Ausschluß des Anspruchs auch nicht auf sachfremden Erwägungen beruht")". Denn selbst für den Fall, daß man die Ausführungen im Runderlaß des RVA. vom 28. September 1928 (a.a.O.) nicht nur als auf Billigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen beruhende aufsichtsrechtliche Empfehlung ansehen, sondern ihnen - als Ausdruck einer unmittelbar aus der Auslegung der §§ 1546 ff. RVO gewonnenen Rechtsauffassung - für das Recht der Unfallversicherung auch folgen will, besteht kein Anlaß, hinsichtlich der Fristvorschriften des BVG dasselbe zu tun. Daran ändert nichts, daß die §§ 56 bis 59 BVG mit den §§ 1546 ff. RVO weitgehendst - sowohl im Inhalt als auch im Wortlaut - übereinstimmen. Denn abgesehen davon, daß sich die Auslegung des RVA. auch nicht andeutungsweise unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut entnehmen läßt, hat bei Schaffung des BVG der Gesetzgeber wie dargelegt trotz Übernahme fast desselben Wortlauts von der Möglichkeit, die ihm bekannte Auffassung des RVA. zu den Fristvorschriften im Recht der Unfallversicherung auch für das Recht der Kriegsopferversorgung zu übernehmen und eine mögliche "soziale Funktion" der Fristvorschriften des BVG gesetzlich zu verankern, keinen Gebrauch gemacht; er hat, trotz Kenntnis sowohl der Auffassung des RVA. als auch der Vorschrift des § 54 a RVG, eine Härteklausel, daß gegebenenfalls auf den Einwand der Fristversäumnis verzichtet werden kann, nicht mitaufgenommen. Eine Auslegung dahingehend, daß die Berufung der Versorgungsbehörde auf die Ausschlußfristen des BVG in besonders gelagerten Fällen (wie etwa dem vorliegenden) einen Rechtsmißbrauch darstellen kann, würde deshalb nach Auffassung des Senats der Aufgabe, bei der Auslegung des Gesetzes den Willen des Gesetzgebers zu erforschen, nicht gerecht werden; sie würde vielmehr, da der Wille des Gesetzgebers bekannt ist, diesen Willen ignorieren und sogar gegen ihn erfolgen.

Endlich steht die Auffassung, daß die Berufung auf die Ausschlußfristen des BVG in keinem Falle, also auch nicht im vorliegenden, eine mißbräuchliche Rechtsausübung darstellen kann, der Zielsetzung und "sozialen Funktion" des BVG oder dem für das Recht der Bundesrepublik geltenden sozialen Prinzip (vgl. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz - GG -) nicht entgegen. Wie die Fristvorschriften der §§ 1546 ff. RVO im § 1547 RVO enthalten einmal auch die §§ 56 bis 59 BVG im § 57 BVG ein Ventil für die Berechtigten, um in bestimmten Fällen einer Fristversäumnis auch noch nach Fristablauf einen Anspruch rechtswirksam anmelden zu können. Darüber hinaus aber gibt es im BVG anders als im Recht der Unfallversicherung noch den § 89 BVG, nach dem die oberste Landesbehörde für Arbeit mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung einen Ausgleich gewähren kann, sofern sich in einzelnen Fällen aus den Vorschriften des BVG Härten ergeben. Diese Vorschrift, die nach der Verwaltungsvorschrift Nr. 1 c) zu § 89 BVG gerade auch bei Versäumnis der Anmeldefristen gelten soll - der Härteausgleich kann hier auch ohne Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung gewährt werden -, bietet der Versorgungsverwaltung alle Möglichkeiten, um im Sinne einer "sozialen Funktion" des BVG auch auf dem Gebiete der Kriegsopferversorgung dem sozialen Prinzip des Rechts der Bundesrepublik (Art. 20 Abs. 1 GG) Rechnung zu tragen. Das ist übrigens offenbar auch die Auffassung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, der in seinem Rundschreiben vom 12. September 1952 (BMA. - IVb - 3709/52) als Fälle der Ermächtigung zur Gewährung eines Härteausgleichs nach § 89 BVG ohne seine Zustimmung unterschiedslos diejenigen bezeichnet hat, "in denen eine Anmeldung des Versorgungsanspruchs nach dem BVG möglich war, die gesetzliche Anmeldefrist aber versäumt worden ist" (vgl. Schönleiter, Handbuch der Bundesversorgung, zu § 89 BVG Nr. 2). In einem weiteren Rundschreiben (vom 19.12.1956, BMA. - V a 2 - 9225/56 in Schönleiter a.a.O., zu § 89 BVG Nr. 9) ist ausgeführt: "Ich habe keine Bedenken, in Fällen, in denen die Verwaltungsvorschriften zum BVG einen Härteausgleich vorsehen (vgl. VerwV Nr. 1 zu § 89), den Antrag auf Versorgung gleichzeitig als Antrag auf Gewährung eines Härteausgleichs zu behandeln, sofern die Voraussetzungen für einen Anspruch nicht gegeben sind und das Versagen einer Versorgungsleistung offensichtlich eine Härte darstellen würde. Ich habe dabei besonders die Fälle im Auge, in denen die Anmeldefrist versäumt worden ist (§§ 56 bis 59 BVG), aber eine Schädigungsfolge einwandfrei vorliegt".

Diese Auffassung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zu den Fristvorschriften des BVG - im offensichtlichen, wohl aber auch im bewußten Gegensatz zu der Auffassung des RVA. zu den Fristvorschriften der §§ 1546 ff. RVO - zusammen mit den Erwägungen des Senats berechtigen zu dem Schluß, daß die Berufung der Versorgungsbehörde auf den Ablauf der Ausschlußfrist des § 58 Abs. 1 BVG auch dann keinen Rechtsmißbrauch darstellt, wenn die sachliche Berechtigung des verspätet geltend gemachten Anspruchs nicht zweifelhaft ist.

Wie bereits ausgeführt, hat der 2. Senat des BSG. sich die Rechtsauffassung des RVA. noch nicht ausdrücklich zu eigen gemacht, seine Darlegungen im Urteil vom 23. Juni 1959 - 2 RU 21/54 - lassen jedoch erkennen, daß er zu dieser Rechtsauffassung neigt. Selbst wenn er aber schon dahingehend entschieden hätte, würde die Auffassung des erkennenden Senats keine Abweichung im Sinne des § 42 SGG darstellen: schon allein im Hinblick auf die Vorschrift des § 89 BVG, die im Recht der Unfallversicherung keine Parallele hat, unterscheiden sich die Fristvorschriften der §§ 1546 ff. RVO von den §§ 56 bis 59 BVG - trotz Übereinstimmung im Inhalt und Wortlaut - so sehr, daß kein Grund ersichtlich ist, sich bei Anwendung der Fristvorschriften des BVG der Rechtsauffassung des RVA. über die Fristvorschriften der §§ 1546 ff. RVO anzuschließen. Gerade aber wegen der Übereinstimmung im Inhalt und im Wortlaut der in Frage stehenden Vorschriften der RVO und des BVG hält es der Senat für geboten, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine grundsätzliche Klärung der aufgeworfenen Frage durch den Großen Senat des BSG. herbeizuführen, und zwar schon deshalb, weil eine mit der Rechtsauffassung des RVA. - und möglicherweise des 2. Senats des BSG. - nicht übereinstimmende Auffassung der Kriegsopfersenate den Eindruck einer Abweichung bzw. einer uneinheitlichen Rechtsprechung hervorrufen könnte. Im übrigen ist die dem Großen Senat vorgelegte Rechtsfrage über den vorliegenden Streitfall hinaus für eine Vielzahl von Streitsachen von grundsätzlicher Bedeutung, mindestens so lange, wie das BVG Fristvorschriften enthält oder diese Fristvorschriften keine Änderung durch den Gesetzgeber erfahren. Gerade jetzt und künftig, nach Ablauf der Fristen des BVG, insbesondere auch des § 58 Abs. 1 BVG, stehen die Versorgungsbehörden immer wieder vor der Frage, ob ein von ihnen beobachtetes gesetzmäßiges Verhalten nachträglich als Rechtsmißbrauch angesehen werden könnte.

Der erkennende Senat weist abschließend noch darauf hin, daß die Tatsache, daß die Versorgungsbehörde am 15. Januar 1958 (während des anhängigen Revisionsverfahrens) den Klägerinnen die Gewährung eines Härteausgleichs nach § 89 BVG verweigert hat, weder der Bestätigung noch der Widerlegung seiner Rechtsauffassung dienen kann, da der Härteausgleich den Klägerinnen hätte gewährt werden müssen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2719972

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge