Entscheidungsstichwort (Thema)

sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. unverschuldete Versäumung der Berufungsfrist. verlorengegangene Berufungsschrift. Glaubhaftmachung. eidesstattliche Versicherung des Rechtsanwalts

 

Orientierungssatz

Zur ausreichenden Glaubhaftmachung einer unverschuldeten Fristversäumnis gem § 67 Abs 2 S 2 SGG bei einer auf dem Postweg verlorengegangenen Berufungsschrift.

 

Normenkette

SGG § 67 Abs. 1, 2 S. 2, § 153 Abs. 1, § 151 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 23.07.2003; Aktenzeichen L 2 U 258/02)

SG Mainz (Urteil vom 08.04.2002; Aktenzeichen S 5 U 45/99)

 

Tatbestand

Der Kläger beansprucht von der Beklagten die Anerkennung und Entschädigung verschiedener Gesundheitsstörungen als Berufskrankheit (BK) nach den Nr 1101, 4101, 4301, 4302, 1302, 1303 und/oder 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) oder als sog Quasi-BK nach § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw § 9 Abs 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII).

Mit diesem Begehren hatte der Kläger bisher keinen Erfolg (ablehnender Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1999, klageabweisendes Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 8. April 2002, zugestellt am 5. Juli 2002, die Berufung verwerfender Beschluss des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 23. Juli 2003).

Mit der am 18. September 2002 beim LSG per Fax eingegangenen Berufungsschrift vom selben Tage hatte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt und zur Begründung vorgebracht, er habe - durch seinen Prozessbevollmächtigten - bereits am 3. August 2002 die Berufung gefertigt und sowohl nach der Fristenkontrolle im Computer wie auf dem bei Urteilsausgang gefertigten Fristenzettel mit einem Absendevermerk versehen. Auch der Postausgang dieses Tages weise den Ausgang der Berufung (mit 1,53 € Porto) aus. Dies versichere er anwaltlich. Er habe die Berufung am 3. August 2002 zur Post gegeben und zwar mit einfachem Brief. Er habe diesen Brief in den Briefkasten Höhe B. in H. eingeworfen. Er habe den Ausgang des Briefes an das LSG Rheinland-Pfalz am 3. August 2002 vermerkt. Das dort genannte Datum sei immer das Datum des tatsächlichen Ausgangs. Falls er die Leerungszeit des genannten Briefkasten verpasse ("seit einigen Jahren werktags 15.00 Uhr und 17.30 Uhr"), ändere er den Postausgang entsprechend.

Das LSG hat eine Auskunft der Deutschen Post vom 14. Februar 2003 eingeholt, wonach der vom Kläger genannte Briefkasten existiert und montags bis freitags um 17.30 Uhr, samstags um 15.30 Uhr und sonntags um 13.00 Uhr geleert wird. Unregelmäßigkeiten bei der Leerung des Briefkastens am 3. August 2002 seien nicht bekannt.

Nach Anhörung des Klägers hat des LSG durch Beschluss vom 23. Juli 2003 nach § 158 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Berufung als unzulässig verworfen. Sie sei erst nach Ablauf der Berufungsfrist (5. August 2002) beim LSG eingegangen. Zwar habe der Kläger wegen dieser Fristversäumnis rechtzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, diese sei ihm indes gemäß § 67 Abs 1 SGG nicht zu gewähren, weil er nicht ohne Verschulden gehindert gewesen sei, die Frist einzuhalten. Das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten müsse sich der Kläger zurechnen lassen. Wiedereinsetzung sei nur zu gewähren, wenn die Fristversäumung auf Umständen beruhe, die den Beteiligten weder unmittelbar noch mittelbar als Verschulden zuzurechnen seien. Die insoweit erforderliche Glaubhaftmachung müsse sich auf alle entscheidungserheblichen Tatsachen beziehen. Dazu gehöre im vorliegenden Falle auch, dass die Berufungsschrift rechtzeitig versandt worden sei. Der Vortrag des Klägers biete nicht genügend konkrete Anhaltspunkte, um annehmen zu können, dass die Berufungsschrift am 3. August 2002, einem Samstag, durch seinen Prozessbevollmächtigten in den maßgeblichen Briefkasten eingeworfen sei. Auf Anfrage des Senats habe dieser ausgeführt, dass er nach Fertigung der Berufungsschrift diese am 3. August 2002 in den Briefkasten eingeworfen habe. Verpasse er die dortigen Leerungszeiten um 15.00 Uhr und 17.30 Uhr, was an dem Ton bemerkbar sei, den die eingeworfene Post verursache, ändere er den Postausgang entsprechend. Dieses Vorbringen belege nicht die Absendung der Berufungsschrift am 3. August 2002. Die Deutsche Post habe insoweit mitgeteilt, dass der Briefkasten samstags allein um 15.30 Uhr geleert werde. Der Vortrag des Prozessbevollmächtigten betreffend den Zeitpunkt des Einwurfs der Berufungsschrift sei nach alledem nicht substantiiert. Da der Prozessbevollmächtigte, der bereits die maßgebliche Leerungszeit des Briefkastens unzutreffend mitgeteilt habe, auch nicht ausgeführt habe, wann genau er am 3. August 2002 die Berufungsschrift in den Briefkasten eingeworfen haben wolle und zudem nach Auskunft der Deutschen Post Unregelmäßigkeiten bei der Leerung am 3. August 2002 nicht bekannt geworden seien, könne hinsichtlich der Richtigkeit der Behauptung des Klägers zum Zeitpunkt des Einwurfs der Berufungsschrift keine überwiegende Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Weitere Zweifel an der Richtigkeit des klägerischen Vortrags resultierten aus dem Umstand, dass sein Prozessbevollmächtigter weder mit dem Wiedereinsetzungsantrag noch im weiteren Verfahrensverlauf das "Original" der Berufungsschrift vom 3. August 2002 vorgelegt habe.

Mit seiner rechtzeitig eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger als Verfahrensfehler geltend, dass das LSG die Anforderungen an die Darlegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen Tatsachen überspannt habe. Es sei richtig, dass er bei der Begründung der Wiedereinsetzung die maßgeblichen Leerungszeiten für den betreffenden Samstag nicht richtig angegeben habe. In der gleichen vom Gericht herangezogenen Auskunft der Deutschen Post sei aber auch die Leerung des betreffenden Briefkastens an Sonntagen aufgeführt. Die Berufungseinlegung wäre also in jedem Falle bei dem von ihm eidesstattlich versicherten Einwurf der Berufungsschrift am Samstag, dem 3. August 2002 und unabhängig von dessen Uhrzeit, an die er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern könne, zum Fristablauf bei Gericht eingegangen. Dass er das "Original" der Berufungsschrift nicht vorlegen könne, liege schlicht daran, dass dieses wohl bei der Post verloren gegangen sein müsse.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde des Klägers ist begründet.

Der gerügte Verfahrensfehler, dass das LSG nicht durch Prozessurteil habe entscheiden dürfen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage, § 160 RdNr 16a mwN), liegt vor. Aufgrund der vom Kläger dargestellten und nach Lage der Akten ersichtlichen Sachlage hätte das LSG die Berufung nicht verwerfen dürfen. Es war vielmehr gehalten, dem Kläger wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Nach dem gemäß § 153 Abs 1 SGG im Verfahren vor den Landessozialgerichten geltenden § 67 Abs 1 SGG ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, sofern er den weiteren - hier auch nach Auffassung des LSG erfüllten - Anforderungen des § 67 Abs 2 SGG nachgekommen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen ist, wobei sich der Beteiligte das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen muss (stRspr stellvertretend BSG SozR 3-1500 § 67 SGG Nr 21 mwN). Der Kläger hat ausreichend glaubhaft gemacht, dass die Fristversäumnis unverschuldet war (§ 67 Abs 2 Satz 2 SGG). Glaubhaftmachung bedeutet, dass nicht die beim "Vollbeweis" geforderte an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gegeben sein muss, sondern dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreicht (vgl BSG SozR 3-1500 § 67 SGG Nr 19 mwN). Im Rahmen der Beweisaufnahme bzw Beweiswürdigung über die Frage der unverschuldeten Fristversäumnis kommt die eidesstattliche Erklärung eines Rechtsanwalts über seine berufliche Tätigkeit betreffende Angelegenheiten als Beweismittel für die Glaubhaftmachung in Betracht. Eine Sonderstellung kommt ihr indes nicht zu, indem etwa an der Richtigkeit der Versicherung eines Rechtsanwaltes als unabhängigem Organ der Rechtspflege nicht gezweifelt werden dürfte (BSG aaO mwN).

Vorliegend ist die nach der eidesstattlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten des Klägers am 3. August 2002 gefertigte und am selben Tag in den Briefkasten am B. in H. eingeworfene Berufungsschrift weder innerhalb der Frist des § 151 Abs 1 SGG noch später beim LSG eingegangen, muss also bei Zugrundelegung des Beschwerdevorbringens auf dem Postweg verloren gegangen sein. In einem solchen Fall reicht es zwar zur Glaubhaftmachung der ein Verschulden ausschließenden Umstände nicht aus, wenn der Anwalt lediglich versichert, den maßgebenden Schriftsatz fristgerecht zur Post gegeben zu haben. Er muss vielmehr substantiiert darlegen, dass und auf welche Weise die Berufungsschrift erstellt und abgeschickt hat und wie dies dokumentiert worden ist (BAG Urteile vom 21. Dezember 1987 - 4 AZR 540/87 - und vom 20. Dezember 1995 - 7 AZR 272/95 -, beide unveröffentlicht). Das ist hier jedoch geschehen, denn der Prozessbevollmächtigte hat bereits im Berufungsverfahren im einzelnen ausgeführt, dass er die Rechtsmittelschrift am Samstag, den 3. August 2002 selbst gefertigt, dies auf seinem Fristenkontrollzettel im Computer vermerkt und das Schriftstück am Nachmittag desselben Tages als einfachen Brief in den erwähnten Briefkasten eingeworfen habe, was durch einen Absendevermerk und die Eintragung des Briefportos von 1,53 € in seinem elektronisch geführten Postausgangsbuch bestätigt werde.

Die Richtigkeit dieser Erklärung kann entgegen der Auffassung des LSG nicht allein deshalb in Zweifel gezogen werden, weil der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Leerungszeiten des bezeichneten Briefkastens an Samstagen nicht exakt angegeben hat. Diese Ungenauigkeit spricht nicht entscheidend gegen seine anwaltlich versicherte Behauptung, er habe die Berufungsschrift am 3. August 2002 in den Briefkasten eingeworfen. Abgesehen davon, dass es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ohne weiteres möglich gewesen wäre, die exakten Leerungszeiten nachträglich zu erfahren und dem LSG mitzuteilen und seine nicht exakten Angaben daher eher für als gegen seine Glaubwürdigkeit sprechen, überspannt das LSG die Anforderungen an eine substantiierte Darstellung des Zeitpunkts des Einwurfs eines Briefes. Es entspricht allgemeiner Lebenserfahrung, dass der Absender eines Briefes insbesondere, wenn er oftmals oder sogar täglich Briefe einwirft, sich die exakte Uhrzeit des Einwurfs jedes einzelnen Briefes nicht über einen längeren Zeitraum hinweg merken kann. Für die Tatsache des Briefeinwurfs am 3. August 2002 spricht somit die eidesstattliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten des Klägers. Seine Angaben zu den Leerungszeiten sprechen jedenfalls nicht dagegen.

Das gilt umso mehr, als es auf die Frage, ob die Berufungsschrift am 3. August 2002 noch vor der Briefkastenleerung gegen 15.30 Uhr eingeworfen worden ist, nicht ankam, denn der Briefkasten wird auch an Sonntagen und zwar gegen 13.00 Uhr geleert. Selbst wenn also der Brief am Samstag (3. August 2002) erst nach der Leerung eingeworfen worden sein sollte, konnte der Prozessbevollmächtigte des Klägers bei vollständiger Adressierung ohne weiteres davon ausgehen, dass der Brief das LSG in Mainz am nächsten Werktag, nämlich am Montag (5. August 2002) und damit rechtzeitig vor Fristablauf erreichen werde. Anhaltspunkte dafür, dass der Prozessbevollmächtigte die Berufungsschrift vom 3. August 2002 anders als die vom 18. September 2002 nicht vollständig an das LSG adressiert hätte und daher nicht auf die gewöhnliche Postlaufzeit hätte vertrauen dürfen, sind nicht ersichtlich. Die normale Postlaufzeit für Briefe wird von der Deutschen Post AG seit Jahren durch entsprechende schriftliche Hinweise auf den Briefkästen dahin angegeben, dass ein tagsüber vor der Abendleerung eingeworfener Brief in Deutschland den Empfänger am nächsten Werktag erreicht. Auch darauf durfte der Prozessbevollmächtigte des Klägers vertrauen. Besondere Umstände, derentwegen er mit einer längeren als der angegebenen Postlaufzeit hätte rechnen müssen, liegen nicht vor. Nach der ständigen Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts genügt der Bürger seiner prozessualen Sorgfaltspflicht, wenn er das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig zur Post gibt, dass es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Post AG den Empfänger bei normalem Verlauf der Dinge fristgerecht erreichen kann (vgl nur BVerfG SozR 3-1100 Art 103 Nr 8 mwN). Das war hier der Fall.

Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.

Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil bzw den gemäß § 158 Satz 3 SGG einem Urteil gleichstehenden Beschluss des LSG aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1755879

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